Ohne Umwege in die Gegenwart
Dick ist die Blutspur, die sich durch die Familiengeschichte der Tantaliden zieht. Mord türmt sich auf Mord im Kampf um Macht, Herrschaft und Sieg. Gibt es eine Chance, den Kreislauf des Hasses zu durchbrechen und eine neue Ordnung zu schaffen? Was erzählt uns diese 2.500 Jahre alte Geschichte in der heutigen Zeit? Fragen an den Regisseur der „Orestie“, Thomas Krupa, und an den Dramaturgen Tim Kahn.
„Die Orestie“ stand immer sehr weit oben auf deiner Wunschliste der Stücke, die du unbedingt mal inszenieren möchtest. Warum stand sie dort und steht sie jetzt, wo die Inszenierung fertig ist, noch immer da?
Thomas Krupa: Eines meiner nachhaltigsten Theatererlebnisse war in den neunziger Jahren Ariane Mnouchkines Bearbeitung des Stoffes in ihrer „Les Atrides“-Inszenierung in Paris. Ihre Interpretation der „Orestie“ als ein Gesamtkunstwerk aus Sprache, Tanz und Musik hat mich nachhaltig in meinem Theaterverständnis geprägt. Heute, über 30 Jahre später, hat für mich die Auseinandersetzung mit diesem ersten großen Theatertext der Neuzeit nichts von ihrer Faszination und politischen Brisanz verloren, im Gegenteil!
Es gibt zahlreiche Fassungen, Übersetzungen, Bearbeitungen und Überschreibungen antiker Stoffe, auch der „Orestie“. Warum habt ihr euch ausgerechnet für die Übertragung von Walter Jens entschieden?
Tim Kahn: Walter Jens hat den Stoff ursprünglich für ein Hörspiel von Gert Westphal bearbeitet und neu übersetzt. Die Besonderheit an seiner Übertragung ist, dass sie als Regiebuch funktioniert, das die Geschichte der Atriden vollständig entfaltet ohne sie einem spezifischen Regiestil zu unterwerfen, wie das Regiebücher sonst manchmal an sich haben. Im Gegenteil. Walter Jens entfaltet die Sprache und die Figuren in ihrer ganzen Kraft und Unmittelbarkeit, erhält dabei zwar das klassische Versmaß, modernisiert die Sprache jedoch gleichzeitig und befreit sie so vom Status des musealen Bildungsguts. Die Bühne ist der Übersetzung von Walter Jens also von Anfang eingeschrieben und so konnten wir Musik, Video und Schauspiel gleichberechtigt in unsere Fassung einfließen lassen.
Antike findet man gerade verstärkt auf den Spielplänen deutschsprachiger Bühnen. Welche Erklärung hast du dafür?
Thomas Krupa: Die Verletzung der Natur, der Ausgangspunkt der Tragödie für Aischylos‘ Zeichnung einer extrem fragilen und verletzlich gewordenen Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs, seine Suchbewegung nach einem Ausweg, aus einem dysfunktional gewordenen politischen System – oder zumindest nach einem utopischen Gegenentwurf – bringt uns ohne große Umwege direkt in unsere Gegenwart von 2024.
Anders als in der Vorlage kommt in eurer Fassung Iphigenie vor, die von ihrem Vater Agamemnon geopfert wird, damit die Winde das Heer nach Troja bringen. Sind es die Toten, die das Leben der Lebendigen gestalten?
Tim Kahn: Was Thomas mit der „Verletzung der Natur“ meint, wird in der „Orestie“ konkret an der Tötung der heiligen Hirschkuh beschrieben. Das ist das Symbol, das sich sowohl auf die Ermordung der Iphigenie bezieht, als auch auf die Auslöschung Trojas verweist. Uns hat interessiert, wie diese Erfahrungen das soziale Gefüge einer Gesellschaft beeinflussen und verändern. Iphigenie wird in der Inszenierung zum Mahnmal für all die zivilisatorischen Brüche, die die Tyrannei ihres Vaters zu verantworten hat. Erinnerungskultur und Postkolonialismus sind die Bereiche, die da sofort ins Feld geführt werden. Und das Theater ist der einzige Ort, an dem wir die Toten überhaupt wiederbeleben können, um herauszufinden, wie sie mit ihren Geschichten unsere Gegenwart strukturieren. Das scheint mir wesentlich, wenn man versucht zu verstehen, auf welchem Fundament die Errungenschaft der Demokratie aufgebaut ist.
Obwohl sie schon eine Weile her ist, habe ich deine Interpretation von „Ödipus“ noch vor Augen. Du hast darin den Krimi offensiv verweigert. Alles lag von Anfang an offen, alle wussten alles, aber niemand wollte es sehen. Ist die Verweigerung von Wahrheit, sind Verdrängung und Verstellung auch in der „Orestie“ ein Thema für dich?
Thomas Krupa: Ja, ein Großes.
Bei einem antiken Stück stellt man sich immer die Frage: Was macht man mit dem Chor? Was ist euer Ansatz?
Tim Kahn: Der Chor wird in unserer Inszenierung von einem einzigen Schauspieler, Roman Kurtz, gespielt. Der Chor ist nicht nur Kommentator der Handlung, sondern tritt mitunter auch als Brandstifter auf und hat ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Macht. Die Konzentration auf einen Spieler ist eigentlich der Versuch, diesen Facettenreichtum zu entfalten. Roman Kurtz lädt seine Figur mit sehr unterschiedlichen Emotionen auf, die in der Masse vielleicht zu eindimensional bleiben würden. Diese öffentliche Stimme interessiert uns als Vertreter einer alten Ordnung, der feststellen muss, dass diese für die Zukunft nicht mehr funktioniert. In ihm zeigt sich, was die kollektiven Erfahrungen des Krieges und der Gewalt im Individuum auslösen können.
Der dritte Teil der „Orestie“ wird oft mit „Erfindung der Demokratie“ verschlagwortet. Das ist hoch gegriffen und angesichts derer, die von der sich abzeichnenden neuen Ordnung ausgeschlossen werden, auch nicht wirklich wahr. Dennoch zeichnet sich ein Streif von Veränderung am Horizont. Möchtest du etwas davon verraten, wie der in deiner Inszenierung aussieht?
Thomas Krupa: Wir haben uns gesagt, wir fangen einfach an und da ist nichts außer uns selber und die Situation, in der wir gerade sind. Das Ensemble befand und befindet sich dabei in einer permanenten Suchbewegung nach dem utopischen Gehalt des Stückes. Es ist ein bisschen wie das Hineinhören in unsere Zeit: Wer sind wir gerade? Wie fühlen wir?
Die Schauspieler*innen testen das aus durch ihr Spiel. Wie mit einem Echolot. Sie befragen den uralten Text und er meldet sich in die Gegenwart zurück.
Aischylos‘ utopischer Ansatz liegt angesichts der gerade überwundenen Kriege (Perserkriege) seiner Zeit in dem Versuch über die Entsühnung des Mörders Orest eine neue Ordnung zu etablieren, die Ansätze einer Demokratie hat. Das passiert in seinem Stück durch eine Art „Jack out of the box“, dem Auftritt der Göttin Athene. Diese Lösung durch die Gottheit ist für mich heute so nicht mehr haltbar. Und der demokratische Gegenentwurf zu dieser im Stück erlebbaren, extrem gespaltenen Gesellschaft, diese Utopie war ja auch schon 50 Jahre nach seiner Entstehung wieder durch neue Kriege und autokratische Machtkämpfe verpufft. Unsere Schauspieler*innen begegnen diesem endlosen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt durch ihr Spiel. Im „es zeigen“ durch ein sehr junges Ensemble liegt für mich der utopische Charakter unserer Inszenierung. Sie diskutieren und kritisieren das Stück im dritten Teil der Trilogie und begehren auf, da ihnen die Antworten verwehrt werden oder zu einfach erscheinen.
Übrig bleiben die Kinder, die Jungen, die versuchen aus den Traumata, dem Dunkel des ‚Alten‘, dem Reich der toten Opfer, ans Licht zu gelangen. In ihrem Aufbegehren liegen das größte Potential dieser traurigen Geschichte und die Hoffnung, aus ihr herauszukommen. Das klingt nach kleinen Schritten, ist aber sehr viel!
Tim Kahn: In der Aufführungstradition gab es lange ein großes Misstrauen gegenüber dem Heilsversprechen des dritten Teils „Die Eumeniden“, wo die vermeintliche Demokratie eingeführt wird. Der wurde dann gerne auch mal weggelassen. Interessant fanden wir dann gar nicht so sehr dieses, heutzutage ohnehin indiskutables, Bürgergericht, welches darüber entscheidet, ob Orest schuldig ist oder nicht. Darum geht es nicht. Vielmehr geht es darum, das Unentscheidbare zu entscheiden. Darin liegt der große Druck, dem sich die Gesellschaft im dritten Teil stellen muss. Die Kunst, sich gegenseitig in seiner Unterschiedlichkeit auszuhalten, politischer Streit, Extremismus, Exklusion, aber auch Nähe, Zartheit, Zuversicht unter den Menschen. All das wollten wir sozusagen als Zusammenfassung der „Orestie“ in den Fokus stellen. Vielleicht ist es ein bisschen naiv, aber wenn die Zivilgesellschaft diesem Druck standhalten kann, ist schon etwas gewonnen. Und sei es nur die Einsicht, dass niemand das Recht hat, über Leben und Tod zu entscheiden, der sich als demokratisch denkendes Mitglied der Gesellschaft bezeichnen würde.
Danke für dieses Gespräch.
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