„Ein gemeinsames Ein- und Ausatmen“

„Gloria“ heißt das neue Theaterstück von Hannah Zufall, das ebenso humorvoll wie radikal die Sinne herausfordert. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die der strengen Erziehung ihrer Mutter einen hochsensiblen Geruchssinn verdankt – und der sie ebenso empathisch wie verletzlich macht. Zwischen Überforderung, Erinnerungsflut und schlagfertigem Widerstand bewegt sich Gloria auf der Suche nach einem Platz in der Welt. Autorin Hannah Zufall spricht mit Dramaturg Tim Kahn über die Verbindung von Geruch und Theater und darüber, wie die Nase unser ganzes Zusammenleben prägt.

Tim Kahn: Für das Institut für theatrale Zukunftsforschung am Zimmertheater Tübingen hast du 2021 „Olfaktoria. Ein Audiowalk zum Durchatmen“ produziert. Was hat dich damals am Geruchssinn so fasziniert und warum hast ihn danach ins Zentrum deines Bühnenstücks „Gloria“ gestellt?

Hannah Zufall: Mich interessiert seit einigen Jahren schon, wie sich unser Geruchssinn auf Emotionen und Erinnerungen auswirkt. Indem wir riechen (und schmecken) lassen wir die Welt ja auch ganz konkret, das heißt körperlich in uns hinein. Das ist ein sehr intimer Akt, den wir aber ständig vollziehen, sonst könnten wir nicht atmen. Während dieser Auseinandersetzung ist mir aufgefallen, wie selten wir aber darüber sprechen, was wir riechend wahrnehmen und dass wir auch wenig Worte für die differenzierte Beschreibung von Düften haben. Mich hat die Herausforderung gereizt, gerade darüber zu schreiben und mich auf die Suche nach Worten zu machen und mich mit der olfaktorischen Forschung tiefer auseinanderzusetzen. Als dann die Pandemie und mit ihr die Distanzvorschriften kamen, wurde das Thema Einatmen, Körper und Näheverhältnisse nochmal ganz anders relevant und so entstand der Audiowalk, auf dem man sich sinnlich einer Stadt und ihren Orten angenähert hat und schließlich – auch mit den Eindrücken dieser vorangegangenen Arbeit – „Gloria“ als Theatertext.

Die Protagonistin Gloria hat ein ziemlich umfangreiches Vokabular, mit dem sie ihre Wahrnehmung beschreibt. Ein simpler Kaffee wird für sie zu einer Reizüberflutung aus 800 Einzelnoten. Wie bist du beim Schreiben mit der Herausforderung umgegangen, diese extrem sinnliche Wahrnehmung in Sprache zu fassen?

Zunächst einmal wird man mit der eigenen Begrenztheit konfrontiert. Es gibt in unserer Sprache zu wenig Ausdrücke für Gerüche, also habe ich begonnen, sehr bildlich zu werden, assoziativ zu arbeiten und versucht, dabei zugleich möglichst spezifisch zu bleiben. Aber ebenso wenig wie sich ein Geruch auf Dauer mit der Nase festhalten lässt, kann Sprache ihn einfangen. Vielleicht geht es eher um das Lenken der Aufmerksamkeit auf dieses flüchtige, manchmal rauschhafte Erleben von Gerüchen. Da kommen für mich Theater und Geruch auch ganz unmittelbar zusammen – in der Erfahrung von Unmittelbarkeit, im Momenthaften.

Tiefe Atemzüge: Dascha Ivanova als Gloria kopfüber und Joey Nashaa Scholl als Quittenmann. Foto: Lena Bils

Tiefe Atemzüge: Dascha Ivanova als Gloria kopfüber und Joey Nashaa Scholl als Quittenmann. Foto: Lena Bils

Während Gloria die Welt bis ins kleinste Detail wahrnimmt, leidet ihre Mutter an Sinnesverlust, weil sie an Demenz erkrankt ist. Zugleich sind Gerüche auch mit Erinnerungen verbunden. Wie würdest du die gesellschaftliche Dimension des Vergessens für unsere Gegenwart beschreiben?

Mir scheint, dass wir Krankheiten wie Demenz lieber ausblenden, sicher auch, weil es uns so ängstigt, uns durch diese Erkrankung immer weiter selbst zu verlieren. Demenz kommt im öffentlichen Leben wenig vor, ich habe etwa nur ein oder zwei Bücher gefunden, in denen Demenz aus Sicht von Betroffenen genauer beschrieben wurde. Ebenso wie das Sterben und Altern wird das Kranksein gesellschaftlich lieber hinter verschlossenen Türen gehalten. Dies hat sicherlich auch viel mit einem Schamempfinden und einer Hilflosigkeit gegenüber anderen zu tun. Aber wenn wir mehr über diese Krankheiten und das eigene Sterben wissen würden, dann könnten wir uns auch bewusster dazu verhalten. In der Medizin wird etwa mit Blick auf eine drohende Demenz empfohlen, einen Geruchskoffer zu packen – das heißt, Gerüche, die man in seinem Leben sehr geliebt hat, zu sammeln, um sie später einsetzen zu können und sie dem Vergessen entgegenzusetzen.

Gloria und ihre Mutter Aletheia haben ein sehr ambivalentes Verhältnis. Gloria versucht, die Erinnerungen ihrer Mutter zu retten, um ihr nah zu sein, möchte aber auch ein eigenständiges Leben führen. An einer Stelle im Stück heißt es, ihre Mutter sei eher ein Prinzip als ein Mensch. Hattest du beim Schreiben eine bestimmte Sichtweise auf die Rolle von Generationenverträgen im Sinn?

Von Verträgen zwischen Generationen bin ich beim Schreiben dieses Textes eher weniger ausgegangen, vielmehr geht es mir in der Beziehung der beiden um Erfahrungen, die transgenerational weitergegeben werden. So hat die Mutter ihrerseits eine schmerzhafte Erfahrung mit ihrem Vater machen müssen und versucht, ihre Tochter nun davor zu bewahren, indem sie sie ausbildet, Gerüche genau einordnen zu können. Was jedoch seinerseits eben nicht nur gute Auswirkungen auf ihre Tochter und ihr Verhältnis zueinander hat. Und so ist es doch oft: Dass prägende Erfahrungen der einen Generationen auf ihre Weise von der nächsten Generation in eigener Weise fortgesetzt, aufgelöst oder neu verhandelt werden. Wichtig war mir zudem, dass auch ältere Menschen in diesem Text vorkommen; gerade bei dem Thema Geruch. Denn je älter wir werden, umso schlechter können wir oft riechen.

Anna Huberta Präg als Aletheia und Dascha Ivanova als Gloria. Foto: Lena Bils

Anna Huberta Präg als Aletheia und Dascha Ivanova als Gloria. Foto: Lena Bils

Gloria ist durch die Überbeanspruchung ihrer Nase ständig auf der Flucht vor Gerüchen. Gibt es für sie einen Ort ohne Geruch, einen utopischen Gegenraum, den du im Stück anlegst?

Glorias Fähigkeit ist natürlich ein extremes Gedankenexperiment, aber letztlich sind wir doch alle ständig irgendwelchen Reizen ausgeliefert, denen wir uns kaum entziehen können. Man könnte die Omnipräsenz der Gerüche auch mit den Erfahrungen, die wir im Leben machen, vergleichen. Im Informationszeitalter gibt es kein Entkommen, um es mal hart zu sagen. Und vielleicht geht es auch nicht darum, sich immer zu schützen oder einen Safe Space zu haben. Vielleicht gehört es einfach dazu, dass wir berührt, verletzt, überfordert und verwirrt sind. Aber dennoch gibt es Momente der Entspannung, der Harmonie und des Friedens und ich glaube, für Gloria liegen diese in der gelungenen Begegnung mit anderen Menschen. Wenn sie sich mit diesen verbunden fühlt, ist der Zustand der Verletzlichkeit anders auszuhalten und verliert an Schärfe. Ich wollte für sie unbedingt ein „gutes Ende“ in der Geschichte haben, da sie mir als Figur so am Herzen liegt und habe zugleich gemerkt, dass dieses nicht unbedingt realistisch ist. Daher spielen am Ende des Textes die Möglichkeiten der Imagination eine so große Rolle.

Ein zentrales Motiv des Stücks ist Einsamkeit. Milena, Aletheias Pflegerin, ist von ihrer Arbeit so vereinnahmt, dass sie kaum noch Kraft für soziale Kontakte hat. Studien zeigen, wer sich als junger Mensch in Deutschland einsam fühlt, glaubt kaum noch an den Sinn, sich für die Demokratie einzusetzen. Verrät uns das Stück etwas darüber, warum es sich trotzdem lohnt weiterzumachen?

Das schließt eigentlich direkt an Glorias gute Momente an – Einsamkeit lässt sich vielleicht nie gänzlich vermeiden, aber doch in der Begegnung und im Austausch mit anderen auflösen oder abschwächen. Und vielleicht zeigt uns eine gemeinsame Geruchserfahrung auch, dass wir uns zwar einsam fühlen mögen, aber nicht allein sind. Wir teilen die Luft, die wir atmen, mit anderen Lebewesen und egal, wie sehr wir uns wünschen mögen, nicht auf andere angewiesen zu sein – wir sind es in essentieller Weise. Aber in der Einsicht dieser Abhängigkeit liegt ein großes Potential! Dafür, dass es sich lohnt, die Umwelt, die wir teilen, gemeinsam zu gestalten und in einem umfassenden Sinne zu erhalten, weil wir wesentlich auf sie und auf die anderen, die sich in ihr bewegen, angewiesen sind. Als Spezies und als Individuum.

Zum Schluss: Wie sieht für dich ein Geruch auf der Theaterbühne aus?

Hat er ein Aussehen? Kann man ihn sehen? Wenn ja, dann vielleicht am ehesten in den Gesichtern des Publikums, in denen er sich spiegelt, bei jedem und jeder anders und vielleicht in einem gemeinsamen Ein- und Ausatmen.

Danke für das Gespräch.


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