Vier traumatisierte Figuren - Azucena und Manrico

Azucena: Figurine von Åsa Gjerstad
Als Giuseppe Verdi sich für das Drama „El trovador“ als neuen Stoff zu interessieren begann, stand die Figur der Azucena im Zentrum seines Interesses. Sie wird als „Zigeunerin“ beschrieben und gezeichnet, als Außenseiterin der Gesellschaft, als marginalisierte Andere. „Zigeunerin“ ist in der gezeigten Gesellschaft anscheinend identisch mit „Hexe“. Seitdem ihre Mutter vor 15 Jahren gefoltert und vor ihren Augen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, befindet sich Azucena in einem für sie und ihre Mitmenschen schwer erklärbaren Zustand. Heute haben wir Worte für das, worunter sie leidet: Posttraumatische Belastungsstörung, Flashbacks, Überlebens-Schuld-Syndrom, Dissoziation. Von ihrer sterbenden Mutter aufgefordert, sie zu rächen, versuchte Azucena damals, das Kind des verantwortlichen Grafen Luna ebenfalls ins Feuer zu werfen. Beim Blick in die Flammen wurde sie von traumatischen Erinnerungen heimgesucht und verlor teilweise das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, musste sie feststellen, dass sie ihr eigenes Kind ins Feuer geworfen hat, während das Grafenkind überlebt hat. Sie entschied sich dafür, das fremde Kind als ihr eigenes anzunehmen.
In der Rezeptionsgeschichte wurde die Handlung des „Troubadour“ und insbesondere die Figur der Azucena oft als unverständlich charakterisiert, doch aus der Perspektive heutiger Psychologiekenntnisse ist es erstaunlich, mit welcher Präzision das Stück Charakteristika einer posttraumatischen Belastungsstörung beschreibt. Seit den schlimmen Ereignissen von damals befindet Azucena sich im Zwiespalt zwischen dem Rache-Auftrag ihrer Mutter und der Liebe zu ihrem Adoptivsohn Manrico. Ihr Leben spielt sich an einer Feuerstelle ab, von der sie selbst sagt, es sei die gleiche Feuerstelle, an der damals ihre Mutter und ihr leibliches Kind verbrannt wurden. Ins aktive Leben findet sie nur dann zurück, wenn ihr Sohn sie braucht, weil er verwundet ist und gepflegt werden muss. Auch wenn sie sich wünscht, dass Manrico für sie die Rache vollzieht und den inzwischen erwachsenen zweiten Sohn des Grafen Luna tötet, ist es ihr am liebsten, ihr Adoptivkind ganz für sich zu haben. Mit ihrem verzweifelten, aber auch manipulativem Verhalten steht sie einem unabhängigen Leben ihres Sohns im Weg. In der Ambivalenz zwischen beiden Zielen – den Sohn beschützen und lieben und das entführte Kind aus Rache zu töten – bleibt Azucena bis zum Ende der Oper. Während sie im Schauspiel noch versucht, das Geheimnis seiner Herkunft auszusprechen und ihn damit zu retten, der Graf sie aber nicht zu Wort kommen lässt, wird Manrico in Verdis Oper so schnell hingerichtet, dass sie gar keine Chance hat, sich für oder gegen die Aussprache der Wahrheit zu entscheiden.

Manrico: Figurine von Åsa Gjerstad
Manrico, der „Troubadour“ wächst bei einer zutiefst traumatisierten Mutter in ärmlichen Verhältnissen auf: Seit 15 Jahren sitzt Azucena an einer Feuerstelle und wird von schlimmen Erinnerungen heimgesucht. Doch Mutter und Sohn verbindet auch eine innige Liebe, die vielleicht gerade deswegen so groß ist, weil Azucena ein Geheimnis hat: Manrico ist gar nicht ihr leiblicher Sohn, sondern ein Kind, das sie einst entführt hatte und töten wollte.
Auch wenn Manrico diese Geschichte nicht kennt, wird er spüren, dass es ein Geheimnis um ihn gibt und dass er „anders“ ist als die Menschen um ihn herum. Vielleicht entscheidet er sich deshalb schon als Jugendlicher, sich in die Dienste eines Adligen zu begeben und damit gesellschaftlich aufzusteigen – auch um seine Mutter eines Tages aus der Armut holen zu können. Doch trotz seiner ritterlichen Ausbildung und seines vornehmen Benehmens bleibt ihm als Mann ohne Familie der wirkliche Eintritt in den Adel versperrt. Einen Ausweg bietet der Stand als Troubadour – ein Sänger, Autor und Komponist höfischer Lieder. Gleichzeitig kämpft er auf Seiten des Herausforderers Jakob von Urgell in einem Thronfolgekrieg gegen den offiziellen König. Als Troubadour hat er Zugang zur höchsten Gesellschaft, ohne wirklich dazuzugehören. So lernt er Leonora kennen, die sich aufgrund seines Gesangs in ihn verliebt – und er in sie.
Die Beziehung zu Leonora bringt Manrico in Loyalitätskonflikte, denn seine psychisch kranke Mutter braucht ihn möglichst viel an seiner Seite und scheut dabei auch nicht vor emotionaler Erpressung zurück. Und als er gezwungen wird, sich zwischen beiden zu entscheiden – Leonora benötigt seinen Schutz in einer von Feinden umzingelten Burg, Azucena wurde als „Hexe“ festgenommen und soll hingerichtet werden – entscheidet er sich für seine Mutter: „Ich war schon ihr Sohn, bevor ich dich liebte.“ Die Heldentat bleibt eine symbolische, denn gegen die Übermacht seiner Gegner hat er keine Chance.
Text: Ann-Christine Mecke
Für hilfreiche Hintergrund-Gespräche über die psychologischen Hintergründe danke ich dem Mediziner Dr. Hans-Ulrich Kötter, der im Extrachor des Stadttheaters Gießen singt.