Synchronität aufbrechen
Choreografin Marie-Lena Kaiser, Produktionsdramaturgin Laura Salerno und Musikerin Maria Trautmann im Gespräch mit Caroline Rohmer
Pin-Chen Hsu, Maja Mirek, Omar Torrico Real I Foto: Christian Schuller
Was hat dich zu dem Thema Hitze inspiriert?
Marie-Lena: Die Inspiration für „Heat up“ entstand in meiner täglichen Tanzroutine zu Hause, die ich während des Corona-Lockdowns entwickelt habe. Bis dahin hatte ich immer im Studio trainiert und es geliebt, dadurch mit anderen zusammen zu sein und mich in der Gruppe zu bewegen. Allein zuhause habe ich dann realisiert, dass mich eigentlich vor allem die bewusste Veränderung meines Zustands interessiert, während ich tanze, die Schärfung meiner Wahrnehmung, meiner gesamten Sinne. In dem Moment, in dem meine Temperatur ansteigt, der Prozess der Hitzeentwicklung beginnt, verändert sich das alles.
Als ich angefangen habe, diesen Moment genau zu beobachten, während ich ihn herbeiführte, sind mir so viele interessante Details aufgefallen, zum Beispiel wie anders sich das Gesicht anfühlt, wie die Haut am Körper zu kribbeln beginnt, der Schweiß plötzlich fließt. Diese Schwelle hat mich interessiert. Im Zuge meiner Tanzausbildung hatte ich immer die Haltung, dass ich viel trainieren muss, dass es beim Tanzen um Virtuosität und Übung geht. Aber eigentlich geht es um die beschriebene Veränderung meines Zustands, meiner Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Das Aufwärmen oder Aufheizen ist nicht Ergebnis, sondern ein Prozess, in dem wir uns mit uns selbst und mit anderen auf neue Weise verbinden.
Das Stück macht diesen Prozess sichtbar, der normalerweise im Verborgenen stattfindet.
Marie-Lena: Genau. Ich mag es grundsätzlich in meinen Arbeiten nahe an Dinge heranzuzoomen, die immer schon da waren und sind, mir die Details anzusehen, sie zu vergrößern und sichtbar zu machen. Ich sehe mir genau an, was ich in meiner Tanzpraxis an Themen und Herangehensweisen zur Verfügung habe, die Dinge und Zustände, die wir als selbstverständlich voraussetzen. Es interessiert mich nicht so sehr, bestimmte Themen von außen extra heranzutragen, die erstmal weit entfernt sind von einer Bewegungspraxis. Wenn ich Material für ein Stück entwickle, möchte ich in jedem Fall nahe an Bewegungen bleiben und nahe am Prozess des Tanzens. In den Proben von „Heat up“ zeigte sich, dass es natürlich immer noch mehr Möglichkeiten gibt, noch weiter über einzelne Aspekte zum Thema Hitze zu forschen, als das, was wir mit dem Abend berühren. Man zoomt nahe heran, und es öffnet sich eine ganze Welt.
Laura: Das Thema ist zwar sehr spezifisch mit der täglichen Tanzpraxis der Tänzer*innen verbunden. Wenn wir jedoch einen genauen Blick darauf werfen, und einen Raum zur Reflexion zur Verfügung stellen, entzünden sich an den klein scheinenden Dingen und Details große Fragen des gemeinschaftlichen Zusammenseins.
Gustavo de Oliveria Leite, Magdalena Stoyanova I Foto: Christian Schuller
Auf physikalischer Ebene bedeutet Wärme, dass Moleküle in Bewegung versetzt werden, und der Vorgang ist abgeschlossen, wenn alles gleichsam schwingt, weil sich die Temperaturen zweier oder mehrerer Systeme angeglichen haben.
Marie-Lena: Dieser Prozess ist schwer zu greifen, er ist schwieriger darzustellen, als wenn es darum ginge, dass alle dieselbe Temperatur haben, also sich synchron bewegen. Zugleich können wir Wärme nur in den Unterschieden, den Reibungen, spüren. Wir können einander als Individuen dann am besten wahrnehmen, wenn wir uns nicht gleichförmig alle im selben Zustand befinden.
In einer Probe sagte jemand, dass man immer mehr die Hitzezonen der anderen Körper kennenlerne, Körperstellen auf die man sich verlassen könne, dass sie besonders warm werden. Um diese Stellen besonders spüren zu können, sei es am besten, wenn sich unterschiedliche Körperteile mit verschiedenen Temperaturen berührten. Dass wir Wärme bzw. Hitze nur wahrnehmen können, wenn zwei Körper bzw. Körperteile eine unterschiedliche Temperatur haben, ist der Grund, warum mich das Thema für den Tanz interessiert.
In der Thermodynamik gelten bestimmte Gesetze, wie Hitze übertragen wird. Inwiefern habt ihr diese in die Choreografie einfließen lassen?
Laura: Als wir uns mit Hitze als Prozess beschäftigt haben, interessierte uns, dass es sich um einen stetigen Transfer von Informationen als Bewegung handelt. Es gibt also ein Verwandtschaft zu den Prozessen, wie Tänze entstehen. Tänze sind auch ein Bewegungsphänomen. Sie werden die durch das Weitergeben von Bewegungen sozial und kulturell geteilt. Dieser Austausch kann dadurch entstehen, dass wir zusammenkommen, zuschauen und lernen und dabei zu einer Synchronität finden. Es kann aber auch bedeuten, eine Bewegung weiterzutragen und weiterzuentwickeln, und dabei Geschichte zu produzieren, indem eine Bewegung in einem anderen Körper fortlebt, während sie am Ausgangspunkt nicht mehr getanzt wird. So sind wir miteinander verbunden, haben eine Gemeinsamkeit, auch wenn sie nicht zur selben Zeit am selben Ort stattfindet.
Marie-Lena: Hitze ist Energie und kann nicht vernichtet werden, sondern transformiert sich. Ein Körper, der sich bewegt, versetzt auch andere Körper in Bewegung. Der Transfer von Energie ist immer darauf ausgerichtet, dass das größtmögliche Maß an Unordnung angestrebt wird. Mit diesen Gesetzmäßigkeiten haben wir uns beschäftigt, wenn wir uns zum Beispiel gefragt haben, was mit der ganzen Energie passiert, die wir in uns sammeln, wenn wir uns in einer Minute so schnell wie möglich aufwärmen. Wie kann ich die Energie bewusst weitergeben? Wie lange braucht es, bis diese Energie meinen Körper verlässt? Wie können wir die Ausbreitung und Vereinheitlichung einer gemeinsamen Schwingung im Raum unterbrechen, umleiten oder stoppen? Was bedeutet es, nicht dem Verlangen nachzugeben, sich an einen dominanten Rhythmus anzupassen, sodass sich alles gleichmäßig vermischt und anpasst und damit Unterschiede verschwinden, sondern stattdessen diesen Prozess zu verlängern?
Welche Rolle spielen dabei die Musik und die Rhythmen, die wir auf der Bühne erleben?
Marie-Lena: Maria hat mit dem Ensemble eine Rhythmusstruktur entwickelt, in der sich die Tänzer*innen in unterschiedlichen Takten bewegen. Die Takte mit ihren unterschiedlichen Akzenten treffen sich immer wieder an einem Punkt, um dann wieder eine Zeitlang auseinanderzugehen. Die Takte bzw. unterschiedlichen Zählungen stehen also im Kontakt miteinander, ohne dass sie sich angleichen. Auf dieser Ebene ziehen wir eine Parallele zum Prozess der Hitzeentwicklung, den wir versuchen so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Momente der Synchronität werden immer wieder aufgebrochen und der Zustand der Gleichförmigkeit hinausgezögert.
Es wäre möglich gewesen, die Tänzer*innen in gemeinsamen Szenen auf Basis unterschiedlicher Rhythmen zu choreografieren, und dann daran zu arbeiten, dass sie sich jeweils nur auf sich konzentrieren. So könnte man eine offensichtliche rhythmische Polyphonie erzeugen, die auch in der Reibung als Hitzeerzeugung verstanden werden könnte. Doch In diesem Stück arbeiten wir mit einer Dramaturgie unterschiedlicher Landschaften, in denen sich die Tänzer*innen frei bewegen. Die Landschaften sind jeweils eine Szene, mit bestimmten Rahmenbedingungen und Regeln, in der die Tänzer*innen immer wieder Entscheidungen treffen müssen. Die Tänzer*innen haben also die Freiheit sich in unterschiedlichen Rhythmus-Mustern zu bewegen, zwischen diesen Mustern zu wechseln, in den Rhythmus ein- und aus ihm auszusteigen, sich dabei die ganze Zeit wahrzunehmen und die Verschiebungen selbst zu erzeugen. Das erfordert viel Aufmerksamkeit, um diese Verschiedenheit zu erhalten und sich nicht direkt aneinander anzugleichen. Es geht uns darum, nicht nur Unterschiede zu erzeugen und aufrechtzuerhalten, sondern, dass das Ensemble einander in den Unterschieden wahrnimmt, und sich immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen an einzelnen Punkten im Rhythmus wieder trifft.
Maja Mirek, Pin-Chen Hsu I Foto: Christian Schuller
Maria: In der ersten Landschaft beispielsweise gibt es einen anhaltenden rhythmischen Puls, auf dessen Grundlage sich die Tänzer*innen bewegen. Dann werden kleine Verschiebungen sichtbar in den Körpern und hörbar, durch zusätzliche Klangschichten. Doch es gibt immer wieder Momente, in denen die anhaltende Beziehung zu dem gemeinsamen Puls wieder erfahrbar wird.
In den Szenen treten die Tänzer*innen immer wieder aus der Situation heraus, und reden über ihre Wahrnehmungen und Gedanken zu dem, was gerade auf der Bühne passiert. Sie gehen dafür in eine abgetrennte Tonkabine. Das Publikum kann den dort geteilten Eindrücken über Kopfhörer zuhören.
Laura: Durch ihre Kommentare am Mikrofon machen die Tänzer*innen Aspekte von Situationen sichtbar, von denen wir sonst als Publikum nicht wüssten, dass sie in deren Wahrnehmung eine Rolle spielen, oder sie im weiteren Verlauf beeinflussen, da wir nur sehen können, wie jemand sehr konzentriert bei der Sache ist. Manches von dem, was wir erfahren ist auch für uns Laien sehr gut nachvollziehbar, wenn sie zum Beispiel über Schweiß sprechen. Andere Kommentare entstehen aus einer professionellen Tanzperspektive, wenn es zum Beispiel um die Details einer bestimmten Bewegung geht oder um die Herausforderungen der Rhythmen. Als Publikum erfährt man den Tänzer*innen gegenüber also zugleich eine interessante Vertrautheit als auch Fremdheit.
Marie-Lena: Wenn ich zusammen mit anderen ein Stück entwickle, dann finden viele Gespräche statt. Im Austausch mit den Tänzer*innen legen sie beispielsweise offen, warum sie sich in einer Improvisation auf ihre Weise verhalten haben. Und es ist schade, dass wir im Tanz oft nur die abgeschlossene Entscheidung sehen und nichts von dem Prozess dahinter mitbekommen. Ich möchte dem Publikum die Möglichkeit geben, einen Einblick in die Entscheidungsfähigkeit dieser großartigen Tänzer*innen bekommen, mit denen ich für das Stück zusammenarbeite. Und ich möchte auch sichtbar machen, dass manchmal die Gründe für künstlerische Entscheidungen nicht besonders komplex oder konzeptionell sind, sondern sehr lebensnah.
Zudem ist es oft verlockend, sich die Körper der Tänzer*innen nur von außen anzusehen und ihre Schönheit und Virtuosität zu bewundern und zu konsumieren. Diesen Blick möchte ich aufbrechen, aber auf eine Weise, in der das Publikum selbst auch in der Lage ist zu entscheiden, ob es diese zusätzliche Informationsebene über die Kopfhörer mitbekommen möchte.
Gustavo de Oliveira Leite I Foto: Christian Schuller
Laura: Das Handwerk der Tänzer*innen ist so reichhaltig und komplex und ihre Sicht auf die Entscheidungen so differenziert, dass es eine große Bereicherung ist, etwas davon mitzubekommen: wie sie darüber sprechen, wie Bewegungen entstehen, wie sie sie Impulse aufnehmen und weiterentwickeln, wie sie einander und das Publikum wahrnehmen, wie sie Gemeinsamkeit oder Unterschiede bewusst herstellen.
Marie-Lena: Sie erzählen in diesen Momenten immer wieder so interessante Dinge, dass ich sie am liebsten festhalten würde. Aber ich entscheide mich bewusst dagegen, Texte oder bestimmte Beobachtungen festzulegen, denn nur so können wir nahe an der Erfahrung bleiben, die die Tänzer*innen tatsächlich in diesem Moment machen, und für die sie aufmerksam bleiben müssen. Selbst wenn sich Themen in bestimmter Weise wiederholen, gibt es daran immer etwas Neues, und setzt sich das Gesagte in einen neuen Zusammenhang, weil die anderen auf der Bühne währenddessen nicht mitbekommen, was gesprochen wird. Es ist eine unerschöpfliche Auseinandersetzung. Je öfter man das Stück sieht bzw. die Kommentare der Tänzer*innen hört, desto mehr erweitern sich die Eindrücke und die Quellen an Informationen, die uns über Zusammengehörigkeit und Miteinander nachdenken lassen. Indem die Tänzer*innen aus einer Szene oder Formation heraustreten, machen sie die unterschiedlichen Perspektiven und Wahrnehmungen innerhalb der Gruppe sichtbar, selbst wenn es von außen so scheint, als hätten sich schließlich alle einem gemeinsamen Rhythmus angepasst.
Die Sounds stammen von Maika Küster, mit der du, Maria, eng zusammenarbeitest. In diesen befindet sich auch ein musikalisches Zitat von Maurice Ravel.
Maria: Maika und ich haben uns für „organische“ Sounds interessiert, die ganz natürlich im Raum entstehen können, z.B. die Geräusche von Kleidung, die aneinander reibt. Die Komposition lässt dabei auch Raum für die tatsächlich während der Vorstellung entstehenden Klänge der Körper. Ansonsten klingen die Sounds und Beats grundsätzlich sehr tief und geerdet.
Das Musikzitat von Ravel sticht dann heraus. Es stammt aus der choreografischen Sinfonie „Daphnis et Chloé“ und es transportiert mich mit den schwebenden Tönen in eine ganz andere Vorstellung von Tanz als Ballett, zu der sich die Bewegungen auf der Bühne ins Verhältnis setzen.
Marie-Lena: Bei meinem ersten Treffen mit Maria habe ich einen Song mitgebracht. Es handelte sich um einen Chor, der a capella Schrittfolgen singt: „To the front, to the back, to the side …“ usw. Dieses Prinzip wollte ich auch gerne bei uns verwenden.
Maria: Der Chor im Stück greift den Rhythmus der Landschaften auf. Durch die verteilten Stimmen im Raum bei gleichzeitiger Dunkelheit habe ich als Zuhörerin den Eindruck, akustisch sehr nahe an die Tänzer*innen heranzukommen.
Ensemble I Foto: Christian Schuller
Marie-Lena: Es ist ein Moment, in dem wir das Publikum dazu einladen, die Kopfhörer – die ja eine Art Parallelwelt aufbauen – für eine längere Zeit abzusetzen, um die Stimmen der Tänzer*innen unverstärkt hören zu können. Die Worte in der Chorszene nehmen bereits eine Schrittfolge für den Tanz am Ende des Stücks voraus und regen dabei schon eine Vorstellung über eine Bewegungsabfolge an. An dieser Stelle wollte ich auch wieder einen Prozess auf andere Weise sichtbar machen, in diesem Fall Tanz und Rhythmus die in den Worten entstehen und in der Sprache auch weitergegeben werden können. Wenn wir im Studio sind und eine Choreografie entwickeln, dann imitieren wir ja nicht nur Bewegungen voneinander, sondern wir sprechen die ganze Zeit, zählen und beschreiben, und über die Worte wird das Material übertragen an andere, breitet sich aus und entwickelt sich.