Schönheit und Gebrechlichkeit des Leibes

Caroline Rohmer, Tanzdramaturgin, über die Auseinandersetzung mit dem Körper bei „My body a stranger that protects me that kills me


Voller Vorfreude und Neugier auf das neue Tanzensemble am Stadttheater Gießen blickt die Choreografin Maura Morales, als wir in Vorbereitung für ihre Proben zur Tanzperformance My body a stranger that protects me that kills me miteinander sprechen. Sie ist glücklich, trotz ihres vollen Produktionskalenders in diesem Jahr, die Tanzsparte am Haus mit dieser Arbeit im Oktober eröffnen zu können. Nach Stationen in Portugal, Tansania, am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen (mit der MIR-Dance-Company), dem TanzTheaterMünster und aktuell mit ihrer Kompanie „Cooperativa Maura Morales“ am Ringlockschuppen Ruhr, wird die Arbeit in Gießen bereits die sechste Produktion in 2022 sein. 
 

Für My body a stranger that protects me that kills me beschäftigt sich Maura Morales mit einem Thema, dass die Grundfesten des menschlichen Verhältnisses zum Körper berührt: nämlich einen Körper zu haben und gleichzeitig ein Körper zu sein. Inspiriert wurde Maura dafür von den Schriften des philosophischen Anthropologen Helmuth Plessner. Dessen Hauptwerke waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden und fanden damals bestürzenderweise wenig Bedeutung über Fachkreise hinaus. Für das Nachdenken über den Körper im Tanz ist es jedoch äußerst interessant, wie Plessner das zweideutige körperliche Dasein des Menschen formulierte: „Ein Mensch ist immer zugleich Leib […] und hat diesen Leib als diesen Körper.“  


In dem Versuch, die abendländische, von René Descartes geprägte Tradition („Ich denke, also bin ich.“) der Trennung von Körper und Geist hinter sich zu lassen, sah Plessner den Körper auch im Denken des Menschen über sich selbst verankert. Dafür nutzt er die im letzten Jahrhundert noch gängige Unterscheidung zwischen Leib und Körper. Der „Leib“ ist, etymologisch betrachtet, der lebendige, subjektiv gelebte, fühlende und gespürte menschliche Körper im Hier und Jetzt. Das Wort „Körper“ hingegen ist vom Lateinischen „corpus“ abgeleitet, ein rein materieller, lebloser Gegenstand, der in erster Linie anatomisch oder physikalisch betrachtet wird. Im englischen „corpse“ – der Leichnam – ist diese Transformationsfähigkeit des menschlichen Körpers noch erhalten. Für die Unterscheidung zwischen „Leib“ und „Körper“ gibt es hingegen im Englischen nur die Möglichkeit der Attributierung. Sie werden in den englischen Ausgaben von Plessners Schriften als „lived body“ und „physical body“ übersetzt, und die Zweiseitigkeit des Verhältnisses zum Körper wird als „being (in) a body“ und „having a body“ beschrieben. 


Körper-sein, d.h. Leib-sein bedeutet bei Plessner, nicht gleichzeitig hier und woanders sein zu können. Es beutetet, einen konkreten Raum einzunehmen, der begrenzt ist zu einer Umwelt, und sozusagen von einem „Zentrum“ aus, die Welt wahrzunehmen. Im Körper-haben dagegen, sei der Mensch zugleich in der Lage, raumzeitliche Gegebenheiten „hinter sich“ zu lassen, „außer sich“ zu sein und zu sich selbst in „Gegendarstellung“ zu treten. Er tritt sozusagen aus seiner Mitte heraus, jenseits der organischen Begrenzung, entwickelt ein Bild von sich wie von außen, und kann damit zu sich selbst in Distanz treten. Plessner beschreibt daher die Position des Menschen in der Welt und damit das, was ihn von anderen lebendigen Körpern der Tiere und Pflanzen unterscheidet, als „exzentrisch“.  Das „Ich“ ist exzentrisch, weil es um seinen Körper, dessen Beschränkungen und die Möglichkeiten der Distanznahme weiß. Es kann auf seinen Körper wie auf einen Dingkörper zugreifen, ihn instrumentell nutzen, ihn „haben“ und auch hinter sich lassen, indem es sich in andere Zeiten und Orte denkt und dabei auch das Körpergedächtnis nutzt.

Leib sein und Körper haben sind wie zwei Seiten einer Medaille, die nicht getrennt voneinander betrachtet werden können, weil sie sich wechselseitig bedingen. Während uns das Leib-sein jedoch von Geburt an als Zustand gegeben ist, ist das Körper-haben eine lebensbegleitende Entwicklung und Erfahrung, die durch Sozialisation und durch die Aneignung von kulturspezifischen Körpertechniken und -bildern erlernt und geformt wird. 
Es beginnt mit der „Beherrschung“ des Körpers, bewusst Vorgänge erfüllen zu können: nehmen wir im Tanz die Fähigkeit, mit dem Rumpf und den Extremitäten bestimmte Formen darzustellen, Pirouetten zu drehen und besonders hoch zu springen, oder sich synchron zu einem musikalischen Rhythmus zu bewegen. Am äußersten „Ende“ des Spektrums von Körper-haben wird der Körper nur noch als Werkzeug begriffen, als schönes Bild, das sich stets unter dem Blick der anderen präsentiert und als Ware kommensurabel gemacht wird – ein Körper für andere unter vielen. 

Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs beschreibt die unterschiedliche Wahrnehmung von Leib und Körper zudem als unmittelbaren Lebensvollzug einerseits und als Erfahrung der Fremdheit und Störung andererseits, zum Beispiel in Situationen der Verletzung, Lähmung oder Krankheit, in denen der Mensch, das „Ich“, sich in Abhängigkeit für die eigene Existenz und des Untergangs erlebt.  Andere Autor:innen, die sich in der Forschung mit Plessner auseinandersetzen, schreiben gerade Situationen und Erfahrungen von Schmerz und körperlicher Dysfunktion noch einer dritten Dimension des Köper-Verhältnisses zu, die sich neben Leib-sein und Körper-haben ausdifferenzieren lässt: es ist das „vom-Körper-Gehabtwerden“, das mit dem Phänomen der „Widerfahrnis“ beschrieben wird. Der Körper wird zugleich als fremd aber auch distanzlos-aufdringlich erlebt, und das Körper-haben wird umgedreht zu einem Gehabtwerden durch den Körper, der den Menschen beherrscht.   

Für die Arbeit von Maura Morales und Michio Woirgardt, der für die musikalische Komposition verantwortlich sein wird, eröffnet sich auf der Grundlage dieser theoretischen Überlegungen zum Körper eine Vielzahl an Möglichkeiten, wie die vier beteiligten Tänzerinnen der Produktion diese Perspektiven mit ihren je eigenen Körper-Erfahrungen weiterdenken und konkretisieren können. Bereits der Titel der Tanzperformance beschreibt den Körper als fremd („stranger“), der uns zugleich erhält („protect“) aber dem wir auch mit unserem Leben ausgeliefert sind, abhängig von seiner physischen Verfassung („that kills me“) aber natürlich auch im übertragenen Sinne gelesen als die gesellschaftliche, soziokulturelle Abhängigkeit des Lebens vom Körper, in und mit dem man leben muss. 

Es ist dabei konzeptionell bedeutend für die Choreografin, dass auf der Bühne nur weiblich gelesene Körper zu sehen sein werden. Gerade die Körper von Frauen* sind gesellschaftlich und politisch einem echten Schlachtfeld ausgeliefert. Die Parameter ihrer Sichtbarkeit, ihrer Formung und kapitalistischen Vermarktung lassen sich im Sinne des Körper-habens zum einen in dystopische Tiefen weiterdenken. In eine feministische Perspektive über die Verfügbarkeit und Vermarktung des Körpers ließe sich aber auch eine empowernde Geste einschreiben, die darüber hinaus mit der Auflösung von Identitätsfestschreibungen untersucht werden kann. Auch der auf den Körper von Frauen* gelegte Begriff der Schönheit interessiert Maura Morales als Beschreibung eines Zustands jenseits äußerlicher Oberflächlichkeit.

Die Konsequenzen des Leib-seins schreiben sich bei biologisch weiblichen Körpern politisch gesehen vor allem immer wieder in die Regulation der Reproduktionsfähigkeit ein. Es war eine Erschütterung, als im Juni dieses Jahres – als sich das künstlerische Team mitten in den Vorbereitungen für „My body …“ befand – der Supreme Court in den USA das grundsätzliche bundesweite Recht auf Abtreibung aufhob, und die Gesetzgebung dazu in die Verantwortung der einzelnen Bundesstaaten gelegt wurde. Gerade in den konservativ geführten Staaten schuf dieser Schritt final die Möglichkeit für das grundsätzliche Verbot aller Schwangerschaftsabbrüche, unabhängig davon, was die Schwangerschaft und Elternschaft für die körperliche und seelische Gesundheit der Gebärenden bedeutet. In den Pro-Life-Debatten werden die Frauen und ihre Leben – im soziologischen Sinne – rein auf die biologische Verfasstheit reduziert, ihren Unterleib. Das gerade entstehende körperliche Leben des Embryos und später des Fötus‘ wird dagegen bereits als vollumfängliche Person, die eine Seele habe, in Konkurrenz zur gebärenden Mutter gebracht. 

In diesen kleinen, aber bedeutenden Nuancen lässt sich die Wahrnehmung von Körpern untersuchen. Für die szenische Auseinandersetzung im Tanz ist es interessant, die Kraft, die Dynamik, das „Können“ und die Potentialität der physischen Körper auf der Bühne nicht nur an Grenzen zu bringen, sondern immer wieder zu unterbrechen in der Sichtbarmachung ihrer individuellen körperlichen Eigenheiten jenseits eines abwertenden Vergleichs, durch die Sichtbarmachung ihrer Verletzlichkeit (gar Sterblichkeit), und die Möglichkeit, dass jenseits der körperlichen Form auch die Persönlichkeit dieser Menschen durchscheinen kann, die uns – dem Publikum – etwas zeigen, „erzählen“, uns mitnehmen und „einnehmen“.

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