Jede Erinnerung ein Bild, jedes Bild eine Szene.
„Polska Sztuka*. Ein biografisches Gemälde mit zehn Personen und einem Hund“ ist eine besondere Produktion, die am 28. Mai 2025 Premiere im Kleinen Haus hat: Der Regisseur und Autor des Abends, Kajetan Skurski, verwebt darin eigene biografische Erlebnisse – geprägt durch die deutsch-polnische Migrationsgeschichte seiner Familie – mit den Erfahrungen von zehn anderen Menschen, die auf unterschiedlichen Wegen nach Gießen kamen. Daraus entsteht ein differenziertes wie berührendes Panorama flüchtiger Gemeinschaftlichkeit. Der Produktionsdramaturg Levi Schafhauser hat mit Kajetan Skurski und mit der Kostüm- und Bühnenbildnerin der Inszenierung, Viviane Niebling, über die Entstehung und Probenzeit gesprochen.
Kajetan, wie bist du darauf gekommen „Polska Sztuka*“ zu inszenieren und was hat diese Geschichte genau mit dir zu tun?
Kajetan Skurski (KS): Ich hatte 2022 ein Schlüsselerlebnis, als ich im Rahmen eines Theaterprojekts jemanden kennenlernte und erst im Laufe der Zusammenarbeit herausfand, dass die Person polnisch spricht und polnische Eltern hat. Weder der Name noch irgendwas Anderes, haben darauf hingedeutet. Im Nachhinein stellte sich raus, dass wir beidseitig eine Vermutung hatten, aber diese blieb über Wochen unausgesprochen. Wir haben gemerkt, dass wir viele ähnliche Erfahrungen einfach nur dadurch teilen, dass man sich nicht auf Polnisch anspricht. Und auch die ganze Zeit danach haben wir interessanterweise Deutsch miteinander gesprochen, obwohl wir ins Polnische hätten wechseln können. Diese Erfahrung war wie ein Outing. Ich habe 20 Jahre meines Lebens die Tatsache unter Verschluss gehalten, dass ich nicht in Deutschland geboren bin. So ein Outing ist erst mal unangenehm und dann gibt es aber eine Verbundenheit.
Von diesem Erlebnis ausgehend habe ich eine Recherche gestartet, habe meine eigene Familienbiografie genauer angeschaut und einen ganzen Kreis an Menschen kennengelernt, die ähnliche Erfahrungen teilen. Die Leute haben alle deutsche Namen, sind völlig unsichtbar, getarnt, und teilen auch dieses Gefühl, dass man sich nicht zeigen will. Man hat aber diese Migrationsgeschichte und darüber zu sprechen, fühlt sich gut, heilsam an, aber man weiß nicht, wohin damit.
Ende 2023 habe ich dem Stadttheater Gießen einen Text geschickt, der auf der Grundlage meiner Recherche entstanden war und ich habe vorgeschlagen, es als Stück zu inszenieren. Daraus hat sich dann ergeben, dass wir eine Stückentwicklung mit Menschen aus Gießen machen, also nochmal diesen ganzen Prozess re-enacten, wenn man so will, vor Ort mit insgesamt zehn Leuten aus Gießen, die ihre persönlichen Erfahrungen auf die Bühne bringen.
Du nennst Polska Sztuka* im Untertitel bewusst nicht Stückentwicklung oder Performance, sondern „Ein biografisches Gemälde“. Wieso?
KS: Auf der Suche nach Kategorien für dieses Stück haben wir keine gefunden, die das Besondere daran umfasst. Aber wenn ich zuhöre und sehe, wie sich die Geschichten unserer Protagonist*innen auf der Bühne verbinden, fühle ich mich, als würde ich in einem Bild drinsitzen.
Ich bin in einem Haushalt groß geworden, in dem bildende Kunst eine große Rolle gespielt hat, weil meine Eltern beide Maler*innen sind. Diese Bilder sind eine ästhetische Vorlage für die Atmosphäre und die Komposition des Stücks. Gemälde meines Vaters sind schließlich sogar in das Bühnenbild eingeflossen. Er malt Bilder, die teilweise Übertragungen von Fotografien sind, die wiederum Erinnerungen festhalten. In unserem Stücktext gibt es diesen Satz: „Jede Erinnerung ein Bild, jedes Bild eine Szene.“ Die Realität schafft Bilder, und die Bilder schaffen Realität. Wie die Kunst von meinen Eltern wirkt, das überträgt sich in das Räumliche. Das ist vielleicht eine Übertragung von einem zweidimensionalen Bild in einen dreidimensionalen, lebendigen Raum mit einer Zeitlichkeit.

© Lena Bils
Viviane, wie baust du als Bühnenbildnerin ein biografisches Gemälde?
Viviane Niebling (VN): Kajetan und ich kennen uns schon eine ganze Weile und auch die Bilder von Kajetans Eltern kenne ich seit meiner Jugend. Für mich spielt die Spannung zwischen Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten eine große Rolle. Wir haben überlegt, wie man den Theaterraum, der oft Zuschauerbereich und Spielfläche trennt, aufbrechen kann und man es gleichzeitig schafft, dass nicht immer alle alles sehen, und wir dadurch auch mit unterschiedlichen Perspektiven und Seherfahrungen spielen.
Das Stück beginnt im Foyer des Kleinen Hauses und das Publikum wird in mehreren Gruppen auf verschiedenen Wegen nach unten in den Bühnenraum geführt. Das Publikum sitzt dann an allen vier Außenwänden, doch die Spielfläche ist durch Vorhänge aufgeteilt, die durch Öffnen und Schließen mehrere Räume schaffen können. Und letztlich können sie sich auch zu einem ganzen, großen Raum verbinden, in dem sich alle, und auch das Publikum, gegenseitig sehen.
Wie die Gemälde, die an den Wänden hängen, ist auch die Bühne in schwarz-weiß gehalten, sie ist wie eine dreidimensionale Erweiterung und im Verlauf des Stückes werden immer neue Bilder kreiert. Auch im Kostüm taucht die Schwarz-Weiß-Ästhetik wieder auf, als verbindendes Glied zwischen allen Protagonist*innen. Die Kleidung spiegelt bei allen immer etwas Persönliches wider, das sie mit uns in den Interviews geteilt haben, und gleichzeitig wirkt es so, als treffe sich diese ganze Gruppe aus zehn Menschen, um einen feierlichen Anlass zu zelebrieren.
Worum geht es in Polska Sztuka*? Was sind die wichtigsten Themen?
KS: Es geht um Migration, das ist der Ausgangspunkt. Was heißt es, nach Deutschland zu kommen? Welche Erfahrungen macht man da?
Später geht es um die Verbindungen zwischen uns, die sich von einer Identitätsfrage irgendwann auch loslösen. Nur weil wir aus Polen sind, heißt das nicht, dass diese Herkunft unsere einzige Gemeinsamkeit ist. Die meisten der Protagonist*innen auf der Bühne haben eine polnisch-deutsche Migrationsgeschichte, aber es sind auch Personen dabei, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen sind oder eine Person, die aus dem Iran kommt.
Und dann geht es nicht mehr darum, wo man herkommt, sondern darum, was wir miteinander teilen, unabhängig von dem Ganzen. Das ist der Kern des Stücks. Es geht darum, wie finde ich andere Menschen, wie komme ich zu einer Gemeinschaft, wie komme ich aus einer Vereinzelung heraus, und was ist eigentlich die Sehnsucht dahinter.
VN: Das wird in der Bühne auch aufgegriffen. In den vier Räumen passiert Unterschiedliches parallel nebeneinander, sodass das Publikum nicht immer alles sieht, aber zumindest hört. Alle leben so nebeneinander eben her, und im Verlauf wird diese Raumteilung aufgetrennt und der Begegnungsraum immer deutlicher.
Wie erzählt man diese Begegnung als abendfüllendes Stück, in dem zehn einander bisher fremde Menschen, viele davon ohne Theatererfahrung, ihre persönlichen Geschichten teilen können?
KS: Ich glaube, das ist tatsächlich das Kunststück. Das Allerallerwichtigste ist Vertrauen.
Wir haben gezielt und gleichzeitig offen nach den Menschen gesucht, mithilfe einer Ausschreibung: Zum Beispiel eine Person, die unterrichtet. Eine Person mit Hund. Ich habe Menschen mit Eigenschaften und Merkmalen gesucht, die auch etwas mit mir zu tun haben, zu denen ich also immer schon mindestens einen Anknüpfungspunkt habe. So ist diese Verbindung zwischen mir und meiner Geschichte und jeder und jedem Einzelnen da. Und interessanterweise entsteht das dann aber auch untereinander, in alle Richtungen.
Das heißt, du warst der initiale Ankerpunkt zwischen allen, bis sich auch zwischen ihnen ein Netz gebildet hat, so dass du dich selbst zurückziehen kannst.
KS: Es war ein Experiment, man kann vorher nicht wissen, ob sich das einlöst oder nicht. Ein wichtiger Baustein war, dass wir uns, bevor die Proben angefangen haben, über einen Monat die Zeit genommen haben um alle Protagonist*innen einzeln zu treffen und Interviews mit ihnen zu führen. Dieses Kennenlernen ist die Basis für das Narrativ dieser ganzen Geschichte.
Ich erzähle ja nicht über die Leute, sondern sie erzählen über sich selbst. Und unser künstlerischer Zugriff darauf liegt in einem Twist: Die Protagonist*innen erzählen über sich gegenseitig, indem sie den Text einer anderen Person sprechen. Besonders deutlich für das Publikum wird das, wenn beispielsweise Nora – sie ist erst 9 Jahre alt und zusammen mit ihrer Mutter dabei – etwas aus Ich-Perspektive erzählt, was nur ihre Mutter erlebt haben kann. Und so produzieren sie alle in den Erzählungen der anderen ihren eigenen Text. Dann ist alles miteinander verwoben.

© Lena Bils
VN: Gemeinsam mit der Videokünstlerin Sharon Jamila Hutchinson, die auch während der Interviews in Teilen gefilmt hat, haben wir die Protagonist*innen während der Proben mit Videoaufnahmen begleitet. Wir haben beispielsweise mit ihnen Orte aufgesucht, mit denen sie etwas verbinden, an denen sie besonders gerne sind oder über die sie was erzählen möchten. Daraus sind Portraits entstanden. Als Videoprojektionen im Stück zeigen sie etwas Persönliches, das vielleicht nicht in Worte gefasst werden kann.
KS: Die originalen Tonaufnahmen aus dem Kennenlernprozess spielen auch eine Rolle. Wir arbeiten mit Originalstimmen, Originalsoundspuren. Das ist eine Art von Dokumentation, ohne dokumentarisch zu werden. Der Soundtrack dazu im Stück wird in enger Zusammenarbeit mit den Protagonist*innen von der Musikerin Sara Trawöger produziert.
Beim Kennenlernen haben wir festgestellt, dass alle irgendeine Art von intrinsischer Motivation auf die Bühne treibt. Und das können wir in Musik, in Choreografie übersetzen. Einige sind an Schauspiel interessiert, standen aber noch nie auf der Bühne. Das heißt, alle bringen ganz viel mit, womit man arbeiten kann. Man muss das nur nehmen und in eine Form packen.
Für wen ist dieses Stück? Was kann das Publikum erwarten?
KS: Man muss nicht Polnisch sprechen oder mit diesem polnischen Kontext irgendwie vertraut sein, um andocken zu können. Es stecken so viele Perspektiven drin, dass es sehr gesellschaftsallumfassend ist. Es geht um Fragen von Gemeinschaft, Migration und Identitätspolitik. Es ist ein vielschichtiges Bild und ich glaube, dass jede*r irgendwas darin finden und sich darin wiederfinden kann. Es ist auch ein sehr emotionales Stück. Das ist vielleicht die einzige Voraussetzung, dass man mit einer Offenheit und mit einer Sensibilität in diesen Abend reingehen sollte.
VN: Dieser Abend ist enorm vielseitig, musikalisch und man wird auf unterschiedlichen ästhetischen Ebenen angesprochen. Er ist sehr intim und gleichzeitig wird man eingeladen, Teil von etwas Gemeinsamen zu werden.
KS: Es gibt ein gutes Essen, natürlich auch einen Hund auf der Bühne und einige Überraschungen.

© Lena Bils
Kajetan, was ist das Geheimrezept für einen richtig guten Barszcz?
KS: Nicht zu sparsam sein mit den Gewürzen, nicht zu sparsam sein mit dem Ferment und nicht zu kleine Mengen kochen. Und dann wird es gut. Viel bringt viel.