Einander unter die Haut gehen
Die Regisseurin und Choreografin Yi-Chun Liu und die Bühnen- und Kostümbildnerin Sabina Moncys im Gespräch mit der Dramaturgin Caroline Rohmer
Ensemble | Foto: Lena Bils
„Close to you“ spielt auf einem Bahngleis. Warum habt ihr euch für dieses Setting entschieden? Was interessiert euch daran im Vergleich zu anderen öffentlichen Orten?
Sabina: Wir hatten zunächst unterschiedliche Orte im Kopf, aber es war von Anfang an klar, dass das Stück in einem öffentlichen Raum spielen soll, wo sich Menschen, die einander nicht kennen, zufällig begegnen können. Man weiß nicht, wer das sein wird, warum sich dort plötzlich in einem Moment bestimmte Menschen nahekommen und andere nicht.
Wir sind am Anfang noch von einem Innenraum ausgegangen, der einen Außenraum integrierte. Jetzt haben wir mit dem Bahnsteig einen Außenraum mit einem Innenraum, dem Warteraum, also können wir mit beidem spielen. Der Innenraum ist wie ein Rückzugsort, von Wänden begrenzt. Auch wenn er für das Publikum aufgeschnitten ist, hat man trotzdem das Gefühl, dass es ein geschlossener Raum ist und dass die Menschen im Inneren irgendwie zusammen feststecken und dazu gezwungen sind, in Kontakt zu treten. Wenn man keinen Kontakt zu anderen haben möchte kann man natürlich herumlaufen, aber da man in der Regel dort auf etwas wartet, beginnt man andere zu beobachten.
Yi-Chun: Das Warthäuschen am Bahngleis kann repräsentativ für das Innere einer Person stehen. Im Warteraum sind die Figuren noch konfrontiert mit anderen, sie sind dort gezwungen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Doch es gibt in diesem Häuschen zusätzlich noch zwei Rückzugsräume, in denen eine Figur allein für sich sein kann. Es gibt eine Toilette, die den intimsten Teil eines Menschen symbolisiert, in den sich die Figuren zurückziehen können, wenn ihnen alles zu viel wird. Und es gibt einen Abstellraum, in den nur wenige Figuren tatsächlich Zugang finden. Er symbolisiert die Anteile oder Räume in uns, die uns selbst mysteriös bleiben, zu denen wir keinen Zugang finden, die natürlich auch anderen, Außenstehenden, unbekannt sind.
Sabina: Im Stück hat nur die Figur der Reinigungskraft offiziell Zugang zum Abstellraum, in dem sie Dinge einlagert, die für Erinnerungen und Wünsche stehen; Dinge, die z.B. Reisende verloren haben, und die dort mit ihren imaginären Geschichten weiterleben.
Omar Torrico Real | Foto: Lena Bils
Yi-Chun: Meine Bewegungsrecherche ist seit längerem sehr davon geprägt, an dem Verhältnis zwischen Innen und Außen zu forschen, zwischen einerseits unseren inneren Gefühlen, unserer mentalen Situation, bestimmten Gedanken sowie Erinnerungen und Erfahrungen, die wir nicht mehr ändern können, und anderseits was um uns herum passiert, wie der Raum und die Menschen auf uns wirken und umgekehrt. In dem Stück geht es mir also um die Frage, wie sich innere Welten nach außen ausdrücken können. Im Hinterkopf hatte ich immer den Gedanken, dass die Figuren an einem Durchgangsort aufeinandertreffen, wo sie sich aufhalten, ohne etwas Bestimmtes zu tun zu haben. Am Bahnsteig kommen Menschen an mit der Erwartung, diesen Ort sehr schnell wieder zu verlassen, um woanders hinzugehen. Was sie dort tun ist also vor allem zu Warten. Der Akt des Wartens versetzt Menschen in einen besonderen Zustand, der ihnen die Möglichkeit gibt, sich nach innen zu wenden, nachzudenken und zu reflektieren. Wenn ich auf der Straße bzw. unterwegs auf meinen täglichen Wegen bin und Menschen begegne, dann habe ich nicht wirklich das Gefühl, die Leute zu sehen. Dagegen erinnere ich mich oft lange an Leute, die ich während des Wartens an Orten wie dem Bahnhof beobachten konnte, weil ich gezwungen war, mich dort anderweitig zu beschäftigen. Ich kenne dann zwar nicht den Kontext, warum sich Menschen in einer bestimmten Weise verhalten, aber wenn man sich darauf einlässt, entstehen kleine Geschichten.
Sabina: Der Raum ist generell eine Metapher für das Menschsein, die Übergänge im Leben, die Erwartungen, dass etwas geschieht und sich verändert. Manchmal möchten wir aus Situationen ausbrechen, woandershin reisen. Die Bahnstation kann uns dabei auch zwingen, die Geschwindigkeit anzuziehen, uns zu beeilen, weil wir sonst den Zug verpassen würden. Und manchmal möchten wir uns lieber zurückziehen, und das Warten verlängern.
Pin-Chen Hsu, Omar Torrico Real, Magdalena Stoyanova | Foto: Lena Bils
Aufgrund von Durchsagen erfahren wir, dass der Zug an diesem Gleis Verspätung hat. Doch die auftretenden Figuren haben durchaus unterschiedliche Motivationen, sich dort aufzuhalten.
Yi-Chun: Es gibt natürlich viele Gründe sich an einem Bahnsteig aufzuhalten. Einige warten dort, um jemanden abzuholen. Oder zwei Menschen, die sich zuvor im Internet kennengelernt haben, verabreden sich dort, weil der Ort zentral liegt. Für die Figuren von Rose Marie und Gustavo sind wir von der Idee ausgegangen, dass die beiden den Bahnhof als Treffpunkt nutzen, um miteinander aus ihren Leben auszubrechen. Im Stück werden sie wie von einer unsichtbaren Macht von weit entfernt angezogen, sie wissen also noch nicht unbedingt von dieser gegenseitigen Anziehungskraft, erst wenn sie am Bahnhof wie Magnete kollidieren.
Oder man ist nur dort, weil man weiß, dass jemand anderes, den man sehen möchte, regelmäßig einen bestimmten Zug nimmt. Die Geschichte von Borys‘ Figur hat sich dahinentwickelt, dass er eine Tochter hat, die den Kontakt zu ihm abgebrochen hat. Er trägt ein Bild von ihr bei sich und er weiß, dass sie regelmäßig an dieser Station ist, und eigentlich möchte er sie dort aufsuchen. Während er wartet, wird er von der Schwere der Dinge eingeholt, die er bereut und bedauert. Es gibt in diesem Stück Menschen, die einen Zug verpasst haben, so wie Emmas Figur, und andere, die noch innerlich zögern, ob sie in den kommenden Zug wirklich einsteigen sollen, die mit sich hadern, wo ihr Platz ist; die – wie Omars Figur – vor allem mit dem Ballast, den sie metaphorisch und wortwörtlich mit sich tragen, beschäftigt sind.
Majas Figur ist vielleicht wirklich vor allem da, um andere Menschen zu beobachten und auch um von ihnen gesehen zu werden.
Emma Jane Howley, Omar Torrico Real, Gustavo de Oliveira Leite, Rose Marie Lindstrøm | Foto: Lena Bils
Das Stück arbeitet mit verschiedenen Erzählebenen. Wir haben die Ebene des Bahnhofs, den Rahmen des Theaters, der thematisiert wird, und auch die Referenz auf ein weiteres Außen, vielleicht sogar jenseits unseres Planeten. Im Stück bewegen sich mehrere Figuren, gespielt von Pin-Chen, Magdalena und Jeff, zwischen diesen Ebenen. Wie hängen sie zusammen?
Yi-Chun: Für mich war von Anfang an klar, dass ich Figuren zeigen wollte, die verschiedene Perspektiven von außen hineinbringen. Die Figur des Aliens, die Pin-Chen spielt, steht mir sehr nahe, weil ich selbst in meinem Leben vielfach die Erfahrung gemacht habe, mich fremd zu fühlen und als Fremde wahrgenommen zu werden. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, diese Fremdheitsgefühle zu thematisieren mit einer Tänzerin, die wie ich aus Taiwan kommt, und mit Jeff, der der zweiten Generation asiatischer Einwanderer in Europa angehört. Ich fragte ihn, wie es war und wie es sich angefühlt hat, in so einer Situation aufzuwachsen. Wie hat er zum Beispiel mit seiner Familie die Weihnachtsfeiertage verbracht? Passt man sich an die Gesellschaft an? Ich als Mutter, deren Sohn in Europa aufwächst, stelle mir auch wieder diese Frage, wie ich mich dazu verhalten soll, was das für sein Leben und seine Identität bedeutet. Wie wird er mit der Frage „Woher kommst du?“ umgehen? Was wird es in ihm auslösen? Es gibt also eine offensichtliche Verbindung zwischen der Figur von Jeff und der Alien-Figur. Über ihre Verbindung mochte ich einen Weg finden, dieses Thema auf nicht zu verkopfte Weise offenzulegen.
Pin-Chen Hsu, Jeff Pham | Foto: Lena Bils
Caroline: Die Beziehung zwischen Jeffs Figur und Magdalenas Reinigungsfrau steht dazu im Gegensatz. Für sie ist die ganze Situation Teil ihrer eigenen Vorstellungswelt in die sie sich im Alltag flüchten kann. Wenn Jeff versucht, den Figuren bzw. Performenden klar zu machen, dass alles nur inszeniert ist, dann verweigert sich Magdalena dieser Sichtweise, obwohl sie ihn, im Gegensatz zu den anderen, durchaus sehen kann. Sie will sich nicht desillusionieren lassen. Für Jeff jedoch wiederholt sich in dieser inszenierten Welt auf extreme Weise die Erfahrung des Otherings (des Fremdmachens). In seinem Versuch, die Inszenierung als solche offenzulegen, geht es ihm auch darum, diese Mechanismen des Fremdmachens zu entlarven. Er glaubt daran, dass er Wahrheit und Repräsentation trennen kann, und erfährt schließlich an sich selbst das Gegenteil.
Yi-Chun: Die Figuren und ihren Geschichten öffnen den Raum, um über größere gesellschaftliche Fragen unserer Gegenwart und Zukunft nachzudenken. Kleine Begebenheiten und Gesten im Alltag können, wenn wir sie genauer beobachten, wie ein Stein wirken, dessen Echo sich im Wasser ausbreitet.
Wie hast du mit den Tänzer*innen an den Figuren und ihren choreografischen Situationen gearbeitet?
Yi-Chun: Als ich die Arbeit mit dem Ensemble begonnen habe, hatte ich bereits verschieden Charaktere als Ausgangsidee im Kopf. Sie waren noch nicht ausgereift, sondern erst einmal wie verschiedene Farben, die ich im Bild haben wollte. Bei manchen hatte ich schon eine konkrete Idee, wer aus dem Ensemble sie übernehmen sollte, bei anderen war es zunächst noch offen. Zur Inspiration haben wir viele Bilder ausgetauscht. Sabina hatte mir zum Beispiel eins von einer Frau geschickt, die mit einem Regenmantel im Wind steht. Das Foto an sich ist nicht besonders dramatisch, aber es löst Vorstellungen und kreative Ideen aus, die dann zu arbeiten beginnen.
Sabina: Wir wussten zum Beispiel von Majas Figur bereits, dass wir mit einem Symbol für weibliche Körper arbeiten wollten, wie sie sich jeden Monat und im Laufe des Lebens verändern, die Last die sie mit sich tragen, wie sie von anderen gesehen werden, welche Erwartungen an sie gestellt werden.
Maja Mirek | Foto: Lena Bils
Yi-Chun: Maja hat die Figur dann weiterentwickelt, hin zu unter anderem der Frage, was es bedeutet, den eigenen Körper anzunehmen, mit allen Veränderungen und Schmerzen, die er durchlebt. Es ist überraschend immer wieder zu erfahren, wie sich die individuellen Geschichten der Figuren weiterentwickeln und dabei an andere Figuren andocken.
Ich hatte die Tänzer*innen einmal gebeten, etwas mitzubringen das ihnen etwas bedeutet, einen Gegenstand oder ein Gedicht, ein Lied – etwas, woraus sich eine Geschichte entwickeln lässt. Es ging davon ausgehend z.B. um das Thema, dass man nicht perfekt sein muss um geliebt zu werden, und das ist in die Geschichte von Borys‘ Figur eingeflossen.
An einem anderen Probentag haben die Tänzer*innen einander die Geschichten ihrer Figuren erzählt, das Ensemble durfte sie in dieser Rolle befragen, zu ihrem Leben und zu ihren Intentionen.
Auch für die Arbeit am Bewegungsmaterial hatte ich zu Beginn schon bestimmte Situationen im Kopf, und wir haben geschaut, wie diese choreografischen Ideen zu den Geschichten und Motivationen passen können, die die Tänzer*innen für sich erarbeiten. Borys‘ Figur beispielsweise, die Probleme damit hat, eigenes Scheitern zu akzeptieren, gern alles auf Abstand hält, und daher Türklinken nur mit einem Taschentuch berührt, findet sich dann also in einer Situation wieder, in der er das Taschentuch nicht mehr loswird, und in einen scheinbar endlos dauernden Kampf mit dem Mülleimer gerät. Momente wie diesen hatte ich zu Beginn bereits im Kopf, aber wie wir dahin kommen, hat sich in der Zusammenarbeit mit den Tänzer*innen entwickelt.
Borys Jaźnicki | Foto: Lena Bils
Was war dir, Sabina, für die Bühnen- und Kostümgestaltung wichtig? Auch hier gibt es einen Kontrast zwischen hyperrealistischer Inszenierung und Künstlichkeit.
Sabina: Ich mag es damit zu spielen, dass man manchmal etwas sieht und denkt „Ja, das kenne oder erkenne ich“, und dann auf dem zweiten Blick feststellt, dass die Sache doch etwas seltsam oder fremd erscheint, dass eine Sache sonst eigentlich anders funktioniert. Wie ein kleiner Shift in der Realität, den du aber erst bemerkst, wenn du mehr Zeit hast, etwas genauer zu beobachten. Es lässt uns genauer darüber nachdenken, was wir eigentlich sehen.
Eine entscheidende Rolle spielt auch das Sounddesign. Ihr arbeitet mit Mikrofonierung und Voice-over.
Yi-Chun: Raphaëlle versucht mit dem Sound eine realistische Atmosphäre herzustellen, und nutzt dafür originale Feldaufnahmen vom Bahnhof, in denen nicht nur die Durchsagen vorkommen, sondern auch typische Umgebungsgeräusche. Weil uns diese Geräusche bekannt vorkommen sind sie ein guter Türöffner, um uns in die Situation hineinzuziehen, die uns zunächst nicht allzu fremd erscheint. Subtil schleicht sich dann zum Beispiel Jazzmusik in den Sound hinein und transportiert uns damit in andere mögliche Szenarien und Orte, vielleicht andere Bahnhöfe in der Welt. Als wäre man zum Beispiel zugleich an einem deutschen Bahnsteig und einer New Yorker U-Bahn-Station.
Die Aufnahmen von Stimmen der Performenden und die Live-Mikrofonierung z.B. ihres Atems oder kleinster Geräusche an ihrem Körper, bringt uns sehr nahe an die jeweilige Figur heran. Als wären wir kleine Insekten die sich auf die Schulter setzen und sie aus einer anderen Perspektive erleben, bzw. was es bedeutet, sie selbst zu sein. Die Texte der Voice-over transportieren uns dann bis in ihren Kopf hinein.
Emma Jane Howley | Foto: Lena Bils
Sabina: Im Sound, in der Bühne und den Kostümen haben wir immer wieder Momente, in denen das bekannte plötzlich dem Ungewöhnlichen weicht und damit den Raum für Fantasien öffnet, für neue Vorstellungswelten, die sich in unserem Raum plötzlich überlagern.
Was bedeutet euch der Titel des Abends?
Yi-Chun: Als ich den Titel kreiert habe, war es nicht beabsichtigt, dass man an ein bestimmtes Lied denkt. Der Song der Carpentiers ist sicherlich einer der bekanntesten mit dem Titel. Ich mag den Gedanken, dass einem die Lyrics und Melodien mancher Lieder nicht aus dem Kopf gehen und einem gerade in den sozusagen „leeren Momenten“ des Wartens oder des täglichen Lebens – beim Händewaschen oder Autofahren – plötzlich einfallen und in eine Erinnerung zurückversetzen können. Für mich repräsentiert dieser Titel sehr gut, was ich mit diesem Stück beabsichtige. Ich wünsche mir, dass Menschen aus dem Abend gehen und bewusster ihre Umgebung beobachten und ihre eigene Position reflektieren. Dass sie dabei ihrer Fantasie freien Lauf lassen und Raum für Empathie lassen. Der Titel steht für das Bedürfnis eines jeden Menschen, gesehen zu werden, wie man ist. Und dass ich andere so sehen kann, wie sie sind, und dabei nicht darüber zu urteilen, wie sie aussehen, was ihr sozialer Status ist, welche Hautfarbe sie haben und in welcher Lebenssituation sie sich befinden. Es geht darum, einander unter die Haut zu gehen und eine intime Ebene der menschlichen Verfasstheit zu teilen. Wir können Verbindungen zueinander herstellen, indem wir uns auf diese Weise erkennen.
Ensemble | Foto: Lena Bils
Sabina: Für mich bedeutet einander nahe sein, Teile des Selbst in dem anderen wiederzuerkennen, oder Menschen die einem nahestehen, z.B. Familienmitglieder, in einer fremden Person wiederzuerkennen. In jeder Seltsamkeit steckt etwas, das man selbst einmal erlebt hat.