Der Gang vor die Hunde
Ökonomische Unsicherheit, moralischer Verfall, wachsender Extremismus: Viele gesellschaftliche Krisen, prägen Erich Kästners Roman „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“. Welche Chance gibt es, die Menschheit vor dem Schritt in den Abgrund zu bewahren? Und wie viel Gegenwart steckt knapp 100 Jahre später noch in dieser Geschichte? Regisseurin Jenke Nordalm im Gespräch mit Dramaturg Tim Kahn.
Während wir am Inszenierungskonzept gearbeitet haben, hast du immer wieder dein großes Interesse an der „Neuen Sachlichkeit“ betont, eine künstlerische und literarische Stilrichtung, die ebenso wie der Roman in den 1920er Jahren entwickelt wurde. Welche Inspiration hast du daraus mit in deine Arbeit am Stück genommen?
Kästner beschreibt mit knapper Sprache sehr ambivalente Situationen und Vorgänge, aus denen sich Rückschlüsse auf die emotionale Verfassung der Figuren ziehen lassen. Der analytische Blick dominiert, selbst Gefühle werden eher seziert und untersucht als ausgelebt. All diese Merkmale sind Stilmittel der „Neuen Sachlichkeit“. In den Proben ging es daher darum, die Essenz der Szenen herauszuschälen, unter der scheinbaren Abgeklärtheit der Protagonist*innen ihren brodelnden Kern erlebbar zu machen. Die präzise Sprachbehandlung, das genaue Zeichnen der Figuren in ihrem Verhältnis zur Welt, stehen im Fokus der Arbeit.
Die 20er Jahre waren auch eine Zeit der extremen Armut, der künstlichen Paradiese, dem hemmungslosen Genießen von Rauschmitteln und Verkaufen des eigenen Körpers für ein wenig Lebenslust. Wie hast du dich dieser Welt mit dem Ensemble genähert?
Der Reichtum von Kunstwerken, literarischen Quellen und dokumentarischem Material zum Thema der 20er Jahre ist groß. Da diese Zeit auch Thema meines Studienabschlusses war, war es ein großes Vergnügen, „Fabian“ mit diesem Material aufzuladen und mit dem Ensemble die Parallelen zur Gegenwart und die Kontinuitäten zu entdecken, die sich bis heute fortsetzen.

© Rolf K. Wegst
Seit Erich Kästners Roman 2013 erstmalig ungekürzt erschien, ist der Stoff wieder verstärkt auf den Spielplänen deutschsprachiger Theater zu finden. Hast du dafür eine Erklärung?
Kästner versucht sich nicht an Lösungen. Er hat mit Fabian eine Figur geschaffen, die sich auf die Beobachterposition zurückzieht. Die Gewalt, die Verlorenheit, die Exzesse und die hitzigen Debatten erinnern uns an viele Geschehnisse aus unserem heutigen Erlebnishorizont. Das macht seine Miniaturen hochaktuell.
Der Protagonist Jakob Fabian ist ein Idealist auf verlorenem Posten. Er versucht das Moralische im Menschen gegen die Verrohung zu verteidigen, scheitert aber stets an der konkreten Umsetzung seiner Ideale. Warum lohnt es sich trotzdem, ihm und seinen Ideen zuzuhören?
Dass jedes noch so selbstbestimmte Leben mit Reibungsverlusten zu kämpfen hat und mitunter Kompromisse machen muss, „ist gewiss“, um mit Kästner zu sprechen. Die große Stärke seiner Figur ist ihr Glaube an Gerechtigkeit, Solidarität, Verständnis und an Toleranz. Es gibt sehr viel Schönheit in Kästners Weltbild und davon kann es nie genug geben.
Du hast in deiner letzten Inszenierung hier in Gießen – „Der Staat gegen Fritz Bauer“ – auf radikale Kontraste gesetzt. Die bürgerliche Strenge der Nachkriegszeit stand gegen laszive Gesangseinlagen, der Kampf gegen die Fortschreibung des NS gegen jede Menge Klamauk. Ist das Karikieren des Bösen, sind Humor und absurde Komik auch jetzt ein Thema für dich?
Ja, ich arbeite gern mit harten Kontrasten – auch das übrigens ein Stilmittel der „Neuen Sachlichkeit“. Die Weimarer Republik war auch ein gesellschaftspolitisches Experimentierfeld, das für viele Freiheit, Mitspracherecht und Aufbruch bedeutete. Leider hat sie ein grausames Ende mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten gefunden. Die zerstörerischen politischen Fliehkräfte, die Schwächen der demokratischen Strukturen, die Gier der Industriellen und die Leichtgläubigkeit der breiten Bevölkerungsschichten sind der Boden, auf dem sich die Gesellschaft bei „Fabian“ in den Abgrund tanzt.
Kästner wurde vielfach vorgeworfen, dass sein Roman unpolitisch und er ein linker Melancholiker sei. Wie schätzt du die politische Dimension des Stoffes heute ein?
In meinen Augen ist „Fabian“ alles andere als unpolitisch. Der Roman streut vielmehr Salz in unsere offenen Flanken und fordert uns auf, genau hinzusehen. Kästner will wachrütteln und sucht selbst nach Auswegen aus der desolaten Verfasstheit der Gesellschaft. Und mit der Benennung von Missständen fängt meiner Meinung nach alles an.
Welche Rolle spielen neben all dem düsteren Ausblick auf die Welt Freundschaft, Liebe und Zärtlichkeit in der Inszenierung?
In dieser Hinsicht ist Fabian Horvaths Figur der Elisabeth in „Glaube, Liebe, Hoffnung“ sehr verwandt. Viele haben vielleicht schon die Erfahrung gemacht, dass Liebe der Schlüssel dazu ist, das Leben erträglich zu machen. Jeder Mensch braucht jemanden, dem bedingungslos vertraut werden kann. Fabian erfährt diese Liebe und verspürt augenblicklich die Kraft, sich verbindlich auf die Herausforderungen seines Lebens einzulassen. Auch bei vielen anderen der Figuren ist die Sehnsucht nach einer wahrhaftigen Begegnung – und sei es nur für einen Moment – spürbar.

© Rolf K. Wegst
Nachdem Cornelia ihn verlassen hat, fährt Fabian nach Hause zu seiner Mutter. Wir waren zu Beginn unterschiedlicher Meinung, ob wir die Mutterfigur besetzen oder nicht. Ich glaube, dein Einwand war, die Rückkehr zur Mutter sei das Aufgeben der eigenen Ideale. Wenn wirklich der Faschismus kommt, haut man dann ab, oder stellt man sich ihm entgegen? Kannst du das nochmal erklären?
Familienbande ist kostbar, absolut erhaltenswert und zu pflegen. Aber ich plädiere dafür, als erwachsener Mensch die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und in Augenblicken der Krise nach Lösungen zu suchen, die sich aus dem vorherigen Scheitern ergeben. Die Rückkehr in den Schoß der Mutter ist für mich grundsätzlich keine Lösung. Ich nenne das, das Effi-Briest-Syndrom.
Bei aller Kontinuität und Verbindung des Stoffes mit unserer Gegenwart: Wie wehrhaft ist unsere Demokratie heute knapp 100 Jahre später?
Wenn wir die Themen, die Kästner verhandelt, mit unserer Lebenswirklichkeit vergleichen, gibt es heute vielleicht stärkere Kontrollinstanzen, die aber auch eingesetzt werden müssen. Auch jetzt steht der demokratische Parlamentarismus in vielen Ländern Europas wieder unter großem Druck. Wie wehrhaft ist eine Demokratie, die sich mit demokratischen Mitteln abschaffen lässt und die man vielleicht irgendwann mit Waffengewalt verteidigen muss? Bröckelt unser Glaube an eine wehrhafte Demokratie? Ein Krieg in Europa, die Aufrüstung, die Verrohung in der öffentlichen Debatte, die Sehnsucht nach einfachen Lösungen, eine gefährliche Politikverdrossenheit sowie ein Pessimismus hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung, klingen bei der Arbeit an diesem Text wie ein Echo zu uns herüber.
Danke fürs Gespräch.