Aggression und Rhythmus

Die Choreografin Reut Shemesh im Interview mit der Dramaturgin Caroline Rohmer über ihre Arbeit an „ANACONDA“.

(Caroline Rohmer) In „ANACONDA“ geht es darum, wie die Beziehung zwischen Individuen und Gruppen auf Social Media-Plattformen geprägt ist. Du sagst über dich selbst, dass du gar nicht so oft und viel auf Social Media unterwegs bist.

(Reut Shemesh) Das stimmt, ich bin auf jeden Fall nicht abhängig (lacht).

Was interessiert dich daran für die Arbeit auf der Bühne?

Ich bin Israelin, und als ich am 8. Oktober 2023 aufgewacht bin und kurz durch Social Media gescrollt habe, hat mich der Hass von allen Seiten überwältigt. [Es war der Morgen nach dem Angriff der radikalislamistischen Hamas auf Israel (Anmerk. d. Redaktion)] Ich war noch in Trauer und mich schockierte dort zu erleben, wie schnell die Stimmung sich veränderte. In diesem Schock habe ich gedacht, wie schwer es für Menschen ist, Schmerz auszuhalten und ihn nicht sofort in Rachefantasien umzuwandeln, mit denen sich Menschen online gruppierten. Es ist natürlich viel einfacher dem eigenen Schmerz auszuweichen und sich in eine Handlung zu stürzten. Doch für mich persönlich wurde deutlich, dass es nicht einfach um Pragmatismus oder Lösungen ging. Es hat sich auch Hass offenbart. 
Mich interessiert, wie sich Wut und Aggression in unsere Körper einschreiben. Ich bin nicht grundsätzlich gegen Aggression, ich denke es gehört zu einem gesunden Leben dazu. Es ist aber eine interessante Frage, wie sie sich so in dir verkörpert, dass du sie produktiv nutzen kannst, und wie das im Gegensatz dazu online performt wird.

Jeff Pham und Ensemble. © Lena Bils

Jeff Pham und Ensemble. © Lena Bils

„ANACONDA“ ist in Kapitel aufgeteilt, in denen es jeweils um unterschiedliche Aspekte der Social Media-Welt geht, aber man könnte es auch als verschiedene Level in einem Videospiel verstehen, in denen man dem Geheimnis auf der Spur ist, was diese Anaconda ist.

Für mich beschreiben diese Kapitel die Transformation von Kontrolle – oder dem Wunsch danach – hin zu Momenten, in denen man als Mensch mit Kontrollverlust konfrontiert ist. Auf Social Media-Plattformen geht es ganz viel darum, die Kontrolle zu haben oder die Illusion zu befriedigen, dass man die Kontrolle darüber hat, wie man sich zeigt und gesehen wird, und was wir dort konsumieren.

Wie sich diese digitalen Erfahrungen wiederum auf unser analoges Leben auswirken, hat durchaus eine politische Dimension.

Neben dem Versprechen und der Illusion von vielen aktiven Verbindungen mit anderen Menschen, steht die Einsamkeit unserer Körper, während wir auf den Bildschirm schauen.
Als wir für „ANACONDA“ angefangen haben, im Studio zu arbeiten, haben wir aber nicht primär über Politik nachgedacht. Unser Startpunkt waren und sind physische Bewegungen. Wir haben uns unter anderem bestimmte populär gewordene Tanzsubkulturen des Urban Dance näher angesehen, wie „Shuffle“, „Popping“, „Locking“ und die Clubkultur. Bei uns stehen also erstmal die analogen, physischen Körper im Zentrum. Ihre Bewegungen, Rhythmen und Dresscodes erzählen schon viel über unseren Zeitgeist, beispielsweise mit welchem Selbstbewusstsein Frauen mit ihrem Körper umgehen.
Wir arbeiten viel mit Frontalität zum Publikum, als wären die Tänzer*innen vor einer Kamera. Das Licht auf der Bühne ist sehr frontal. Und wir kreieren dabei auch den Eindruck von Close-ups. Immer wieder wechseln wir die Rhythmen. Die Weise, wie die Online-Videos heutzutage editiert werden, ist auch ziemlich aggressiv, mit vielen schnellen und harten Cuts. Entsprechend ist auch die Choreografie – vor allem im zweiten Kapitel von „ANACONDA“ – sehr straff, mit vielen Wechseln und Schnitten. Man sieht ein Bild, und schon bewegt es sich weiter.
Die Bedeutung und der Einfluss, den die Bilder und Bewegungen aus Urban Dance Szenen durch das Internet haben, sind vergleichbar mit früheren Volkstänzen – nur, dass es jetzt die coolen Leute sind, die das vormachen. Und anders als traditionelle Volkstänze repräsentieren sie auch nicht mehr so sehr bestimmte geografische Räume, sondern politische Räume, gebildet von bestimmten Bewegungen, in denen sich Menschen zusammenschließen. Und damit sind auf jeden Fall auch bestimmte Vorstellungen und Ideologien verknüpft.
Obwohl wir beispielsweise im ganzen ersten Kapitel ohne Bewegungen aus dem Contemporary Dance arbeiten, ist „ANACONDA“ Contemporary Dance, weil wir die Körper auf der Bühne nicht einfach „for free“ konsumieren, sondern das Stück uns darüber nachdenken lässt, wie wir diese Tänzer*innen wahrnehmen. Das Material, das wir nutzen, wird die ganze Zeit hinterfragt.

Jeff Pham, Maja Mirek, Rose Marie Lindstrøm, Omar Torrico Real und Pin-Chen Hsu. © Lena Bils

Jeff Pham, Maja Mirek, Rose Marie Lindstrøm, Omar Torrico Real und Pin-Chen Hsu. © Lena Bils

Was interessiert dich genau an dem Bewegungsmaterial, das du für „ANACONDA“ kombiniert hast?

Ich arbeite oft mit Vertikalität, also mit aufrechten und aufgereihten Körpern. Rhythmisch arbeite ich oft mit Staccato. Aber ich bin an mechanischen und roboterartigen Bewegungsqualitäten interessiert. Ich mag Momente, in denen sich ein Körper in einen Cyborg zu verwandeln scheint, um dann wieder menschlich zu wirken. Aber ich feuere die Tänzer*innen auch an, auf der Bühne eine anarchistische Ausstrahlung zu entwickeln, ein Teen-Spirit.

Wie wirkt sich dieser anarchistische „Teen-Spirit“ auf die Proben und die Performance aus? Du meintest einmal, dass du keinen „mess“ (Chaos) auf der Bühne oder mit den Requisiten magst, aber dass du „messy bodies“ (chaotische/unordentliche Körper) sehen willst.

Es bedeutet beispielsweise, dass man keine Angst davor hat, sich ein Bewegungsmaterial anzueignen. Das Konzept von Fehlern gibt es darin nicht. Du musst nicht immer den Regeln deiner Tanzausbildung gehorchen. Contemporary Dance lebt davon, das eigene Medium und die Mittel zu hinterfragen, also auch die Weise, wie Tänzer*innen das Material interpretieren.
Wenn ich ein Stück entwickle, arbeite ich immer mit bestimmten Regeln, aber ich lasse mir die Freiheit, sie zu brechen. Auch in der Dramaturgie eines Stücks, mag ich es nicht, wenn die Struktur zu didaktisch ist und damit dann vielleicht auch zu vorhersehbar. Wir haben beispielsweise in „ANACONDA“ das dramaturgische Konzept, dass es drei Kapitel gibt. Und das haben wir dann unterlaufen, mit einem eingeschobenen „hidden chapter“, Kapitel 2.5.
Mit „messy bodies“ meine ich zum Beispiel auch die Aggression, die in uns allen liegt. Diese möchte ich sichtbar machen. Das ist nicht dasselbe wie Kontrollverlust, es sind am Ende immer noch professionelle Tänzer*innen. Ich glaube nicht daran, dass es auf der Bühne so etwas wie Authentizität gibt. Und trotzdem ermutige ich die Tänzer*innen darin, dass sie das Bewegungsmaterial so behandeln, als wären sie gerade im Club – also zum Spaß tanzen.

Von außen sieht es auf den ersten Blick so aus, als würden alle in den Gruppensequenzen das Gleiche machen. Aber bei genauerem Hinsehen, sieht man, wie alle ganz unterschiedlich herausstechen. Wie arbeitest du mit den Tänzer*innen daran?

Ich arbeite mit verschiedenen Schichten. Die erste Schichte besteht darin, durch ein Bewegungsmaterial einen Rahmen vorzugeben. Es ist immer eine Bewegung, ich beginne nie mit Worten oder Assoziationen, sondern nehme es erstmal aus meinem Körper heraus. Und dann bitte ich die Tänzer*innen, sich das jeweils zu eigen zu machen. Sie können sich sicher fühlen, weil ich sozusagen einen gemeinsamen Boden vorgebe, von dem aus sie sich jeweils entwickeln und etwas in ihrem individuellen Körper finden können. Sie müssen also nicht aus ihrer eigenen Vorstellungskraft etwas herstellen, sondern sie können mit dem arbeiten was ich schon interessant finde. Und dann kann ich von außen wieder eine neue Ebene hinzufügen. Ich arbeite viel mit Solos, in denen dieser Zugang sichtbar wird.

Inwiefern ist „ANACONDA“ eine Weiterführung deiner bisherigen Arbeit? In vielen deiner Stücke geht es um die Gleichförmigkeit einer Gruppe und dann überraschst du das Publikum damit, dass daraus individuelle Persönlichkeiten und Figuren herausbrechen.

Ich arbeite oft mit Uniformität, also tatsächlich auch auf die Kostüme bezogen. In „ANACONDA“ verweisen wir mit dem Bewegungsmaterial immer wieder auf existierende Genres von Subkulturen des Urban Dance. Und wir wechseln in der Choreografie immer wieder zwischen Gruppensequenzen und Solos.
Ich hinterfrage einfach immer wieder das Konzept von Individualität. Das Coole an der heutigen Popkultur ist ja, dass immer die Rede davon ist, dass alle einzigartig sind und sich individuell ausdrücken können. Und dann steht man allein vor so einem Gerät und filmt sich selbst dabei, wie man tanzt. Aber das Material ist selten originär von dieser Person, sondern etwas Gelerntes und Angeeignetes, das auf ein bestimmtes Genre verweist, auf eine Community, die dahintersteht. Aber es ist alles immer wieder verpackt in die glänzende Hülle der Individualität.

Omar Torrico Real und Jeff Pham. © Lena Bils

Omar Torrico Real und Jeff Pham. © Lena Bils

Gerade bezogen auf die Social Media-Welt wird man gerade dann als „Original“ sichtbar, wenn andere einen nachmachen und kopieren, weil am Ende immer alle nach dem Ursprungsvideo fragen, das den Trend gestartet hat.

Auf uns allen lastet ein Druck, sich zwischen den beiden Polen Individualität und Gemeinschaft zu bewegen. Diese ganze Konstruktion interessiert mich immer wieder für meine Arbeit. Ich halte daher auch den Anspruch von Einzigartigkeit an meine eigenen Stücke für Bullshit. Ich arbeite immer wieder mit so genanntem „found footage“, also vorhandenem Material, und entwickle Dinge weiter, die ich in vorherigen Stücken bereits untersucht habe. Und es ja auch das Schöne in der Kunst und im Leben, dass wir immer in Verbindung zu anderen Dingen und Menschen stehen und auf sie verweisen, und damit einen größeren Zusammengang sichtbar machen können.

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