Wie es stattdessen sein könnte

Foto: Maja Mirek

Foto: Maja Mirek

Ein Gespräch zwischen Constantin Hochkeppel, Künstlerischer Leiter vom Tanzensemble Gießen, und der Dramaturgin Caroline Rohmer über die Produktion „where we are (at)“, die Zusammenarbeit im neuen Tanzensemble und sein Verständnis des Physical Theatre.


Caroline Rohmer: Als du im Frühjahr 2022 angefangen hast „where we are (at)“ zu planen, war eine Intention, dass die Tänzer:innen als individuelle Künstler:innen-Persönlichkeiten sichtbar werden können, dass man sie als neue Gesichter des Theaters und neues Ensemble kennenlernt. Wichtig war dir auch, dass die Arbeit generell einen aktuellen Bezug zu unserer Zeit hat. Wie hast du diesen Anspruch umgesetzt?

Constantin Hochkeppel: Bevor wir angefangen haben zu proben, hatte ich einen ganz anderen Abend im Kopf als das, was am Ende dabei herausgekommen ist. Ich würde immer noch sagen, dass die Tänzer:innen individuell sichtbar werden. Aber ich dachte tatsächlich ursprünglich an eine Art Standpunkt-Erkundung von jeder einzelnen Person auf der Bühne. Ich hatte eine Game Show im Kopf, wo alle Mitspielenden vorgestellt werden, um dann gemeinsam in eine Art „Spiel des Lebens“ zu treten. Die Fragen „Wo befinde ich mich?“, „Wo komme ich her?“, „Wo gehe ich hin?“, die wir auch in unserer Recherchephase bearbeitet haben, wären mit den individuellen Antworten in diesem Szenario viel mehr herausgestellt geworden. Das ist es nicht geworden, und dennoch zeigen die einzelnen Tänzer:innen viel von sich persönlich, ihren künstlerischen Interessen und Mitteln. Auch, weil das Meiste, was wir szenisch und choreografisch entwickelt haben, aus deren eigenem Bewegungsmaterial und selbstgeschriebenen Texten kommt. Mir ist wichtig, den Tänzer:innen Freiraum zu lassen, ihre eigene Perspektive und Kreativität miteinzubringen. Die Art, wie sie sich selbst präsentieren wollen, ist so Teil des Stücks geworden – in einer Form, die Sinn hat und auch sinnlich ist.

CR: Wie gibst du deine Impulse während der Recherchephase hinein?

CH: Wir haben in der ersten Probe mit einem gemeinsamen Brainstorming begonnen, und da gibt allein schon die Fragestellung eine erste Richtung vor. Wir haben Stimmen, Ideen und Gedanken gesammelt und dann darüber gesprochen. Diese inspirieren mich dann ganz konkret zu Bildern, Szenen und Bewegungsabläufen, die wir gemeinsam ausprobieren können. Währenddessen leite ich gewisse Schlagworte oder Halbsätze ab – ich nenne sie Titel. Ich habe in den Anfangsproben etwa 60 Titel auf einem Blatt gesammelt und die Tänzer:innen hatten Zeit und Raum, dazu zwei- bis fünfminütige Improvisationen zu entwickeln. Diese wurden nach einigen Tagen vor dem Ensemble gezeigt, im Anschluss haben wir darüber gesprochen, was wir gesehen haben und was spannend war. Es musste nicht offengelegt werden, welcher Titel bearbeitet wurde, damit wir anderen nicht in die Falle traten, voreingenommen zu sein und etwas für zu platt oder offensichtlich zu halten.
Neben Bewegungen und kleinen Choreografien steht gesprochene Sprache, Voiceover, Einsatz von Musik, Requisiten … Es kann alles sein. Man kann mit diesem Material direkt arbeiten oder sich einfach inspirieren lassen, das ist eine ständige Wechselwirkung. Mit dieser Freiheit, am Anfang in das Brainstorming einzusteigen, mit Improvisation zu arbeiten und auch immer wieder die Themenlage zu reflektieren – sich also nicht nur zu bewegen und szenisch zu arbeiten, sondern auch intellektuell – haben die Performenden dann die Möglichkeit sich auszudrücken.

CR: Wie erwähnt, hat das Stück einen starken Bezug auf unsere Gegenwart, das steckt ja schon im Titel „where we are (at)“, also „Wo wir sind“ oder als Frage –

CH:  – „Wo stehen wir?“

CR: Abgewandelt kommt er auch im Stück vor: „Was ist das für ein Ort?“ und er bezieht sich dabei sehr konkret auf die Bühne und später dann den Ort der Aufführung, das Theater. Und am Anfang der Proben bestand das Brainstorming eben aus diesen drei Sätzen: „Where I come from“, „Where I am“ und „Where I‘ll go“. Gibt es ein Schlagwort, dass dir dazu in Erinnerung geblieben ist?

CH: Im Brainstorming tauchte das Wort „survive“ auf, überleben. Daraus bildete ich den Titel „I will survive“. Jeff hat darauf basierend ein einnehmendes Solo entwickelt, das er im zweiten Teil der Inszenierung vorne an der Rampe zeigt. Ich arbeite bei den Titeln gerne mit Mehrdeutigkeiten. „Die Gedanken der letzten Nacht“ kann das „gestern“ meinen oder kann verstanden werden als „es gibt keine weitere Nacht danach“. Oder auch „Should I go left where nothing is right or right where nothing is left“, sinngemäß wäre das auf Deutsch „Sollte ich links gehen, wo alles rechtens ist, oder rechts gehen, wo alles verloren ist?“. Manche Titel waren sehr offen und klangen eher nach einem Buchtitel: „Das kollektive Trauma der Vergangenheit“ zum Beispiel. Andere waren hingegen viel konkreter, wie zum Beispiel „Der energetische Tanz der Klimakrise“. Wie dieser Tanz aussieht, ist natürlich offen. Und manche Titel hatten tatsächlich eine konkrete Aufforderung: „Let’s build a garden“ („Lasst uns einen Garten anlegen“) oder „Atme“.

„Es ist für mich ein erster Schritt zu sagen: Ok, was ist denn überhaupt da?“

CR: Der Atem spielte auch eine große Rolle in deiner Konzeption für die Musik. Was interessiert dich daran?

CH: Auf einer abstrakteren Ebene finde ich es interessant, dass wir alle atmen müssen, aber darauf in der Regel selten unsere Aufmerksamkeit liegt. Wie atmen wir eigentlich? Wie atmen wir bewusst? Wann halten wir unseren Atem an, wann ist er flacher, wann ist er tiefer? Das bewusste Atmen transportiert dich direkt ins Jetzt, weil du unmittelbar mit deinem Körper, mit deinem Innersten verbunden wirst. Wenn du bewusst atmest, muss für einen kurzen Moment alles andere egal sein. Dann bist nur du da, mit deinem Lebensatem, deine Ernährung des Körpers mit Sauerstoff. Erst wenn ich im Hier und Jetzt bin, kann ich mich spüren als lebendiges Wesen, das auch aktiv werden kann. Das Thema Selbstwirksamkeit hat für mich unmittelbar mit dem Atem zu tun, denn erst wenn ich mit mir verbunden und mir meiner selbst bewusst bin, kann mir bewusst werden, dass mein Handeln Einfluss hat. Ich habe das Gefühl, dass wir angesichts der vielen Krisen, denen wir ausgesetzt sind, häufig Zweifel daran haben, etwas bewirken zu können.

CR: Interessanterweise ist das Atmen wirklich einer der wenigen Vorgänge, die sowohl unbewusst durch das vegetative Nervensystem gesteuert werden, als auch ganz bewusst in einer bestimmten Weise durchgeführt werden können. Das lässt sich vergleichen mit dem Unterschied zwischen agieren und handeln. Das Agieren ist unser Überlebensinstinkt, da reagieren wirauf die Umstände und Anforderungen an uns, ohne groß drüber nachzudenken. Aber zu Handeln erfordert das Bewusstmachen von der Kraft, die in uns steckt. Es gibt ganz konkrete Szenen wie die, in der eine Tänzerin eine Herzdruckmassage erhält und von Mund zu Mund beatmet wird. Es ist ein ganz pragmatischer Akt, ein anderes Leben zu retten, der aber – und das zeigt die Inszenierung gerade an dieser Stelle ganz drastisch – nicht allen Menschen gleichermaßen zugestanden wird; zu oft, weil wir uns persönlich nicht zuständig fühlen, und dann fallen die Menschen durch die Raster unserer sozialen und politischen Systeme. Und ich finde auch, dass die Transformation des Bühnenbilds das eindrücklich erzählt.

„Der Raum hat etwas eigenständig Lebendiges.“

CH: Genau, denn die Bühne ist zunächst ein eher hermetisch abgeschotteter Raum, der aber etwas eigenständig Lebendiges hat. Dort passieren unerwartete Dinge, die uns auf etwas aufmerksam machen, was wir vielleicht nicht wahrhaben wollen. Im Laufe des Abends fällt der Raum auseinander, es öffnen sich Fenster und Türen nach draußen. Er dreht sich und bringt wie ein Kaleidoskop immer neue Bilder hervor, die offensichtlich Teil unserer kollektiven Erinnerung sind. Die Ästhetik einer Gummizelle hat einen großen Einfluss auf das Bühnenbild gehabt, aber auch die Idee der Ruine als der Zustand eines Gebäudes, der immer noch erzählt, wofür eine Architektur einmal genutzt worden ist. Die Ruine regt aber auch Spekulationen an und macht neue Möglichkeiten auf in der Frage, wie das Gebäude jetzt oder in Zukunft benutzt werden kann. Über das Bühnenbild hinaus wird schließlich die Frage „Was ist das für ein Ort?“ an das gesamte Theaterhaus gerichtet.

CR: Es überlappen sich sozusagen zwei Zeitebenen. In unbestimmter Zukunft gibt es vielleicht eine Generation von Menschen, die die Nachgeborenen einer untergegangenen Infrastruktur sind. Sie könnten sich die Frage stellen, wofür das jetzige Große Haus des Stadttheaters Gießen mal genutzt wurde. Selbst wenn noch die Inschrift über dem Portal erhalten wäre, „Ein Denkmal bürgerlichen Gemeinsinns“, würden die Spekulationen vielleicht nicht in Richtung eines Theaterhauses gehen.
Es geht in dem Stück oft um Zeit oder wie wir uns in der Zeit verordnen, welche Dinge uns aus unserer Vergangenheit geprägt haben, was wir vergessen oder verdrängt, und welche Vorstellungen von der Zukunft wir haben. Es lässt sich allein schon im Motiv der Drehbühne feststellen, dass die Vorstellung von einer geraden Zeitlinie nicht alternativlos ist. Offensichtlich ruht die Vergangenheit nicht einfach hinter uns, sondern holt uns immer wieder ein. Und auch die angedrohten Dystopien sind oft viel näher, als wir ursprünglich dachten. Ich finde gerade beim Thema Klimawandel ist es sehr auffällig, dass der Großteil immer davon ausging, dass das erst die Enkel und Urenkel betreffen könnte – stattdessen sind die Auswirkungen jetzt sehr präsent.

„Es sind zu Bildern kondensierte Traumata, die uns verfolgen.“

CR: Viele Menschen erleben die Gegenwart insgesamt als rastlos, unübersichtlich und krisengeschüttelt. Wie wurde das im Ensemble während der Proben diskutiert?

CH: Die Zeiten, in denen die Ensemblemitglieder – alle zwischen Anfang 20 und Ende 40 –  in unterschiedlichen Teilen der Welt erwachsen geworden sind, sind geprägt von wachsendem Nationalismus. In einer Probe ging es zum Beispiel viel um Polen. Zwei Tänzer:innen erzählten, dass sie in einem Land aufgewachsen sind, das sich ständig bedroht und von seinen Nachbarländern nicht ernst genommen fühlt. Erfahrungen wie diese räsonierten sehr stark im gesamten Ensemble und dem Team. So ähnlich wird es auch im Stück thematisiert: Was passiert, wenn der eigene Ort auf einmal nicht mehr sicher zu sein scheint und aus den Fugen gerät? Was, wenn sich Rabbit-Holes öffnen, aus denen im wahrsten Sinne des Wortes Innereien zum Vorschein kommen, die man nicht erwartet hätte?

CR: Mein Verständnis ist, das es in dem Abend nicht darum geht, all unsere gesellschaftlichen und politischen Krisen darzustellen – diese Auswahl ist ja zwangsläufig auch eurozentristisch. Trotzdem gibt es viele Verweise auf bestimmte kollektive Bilder.

CH: Es sind Bilder, die aufblitzen, die ganz klar unser Zeitgeschehen widerspiegeln. Zum Beispiel die sogenannte „Flüchtlingskrise“, im Zuge derer die europäische Öffentlichkeit 2015 an ihren Grenzen „plötzlich“ darauf aufmerksam wurde, dass Menschen über das Mittelmeer aus ihren Heimatländern flohen, dabei starben und immer noch sterben, weil sich die europäischen Staaten als Gemeinschaft nicht für ein individuelles Leid zuständig fühlen. Im Kontrast dazu stehen die Bilder eines westlichen Lebensstandards, mit einem Übermaß an Konsum und Verschwendung. Es gibt natürlich auch die etwas offeneren, getanzten Sequenzen, die auf den persönlichen Umgang mit diesen Krisen hinweisen. Was macht der „Einbruch von Welt“ mit mir persönlich? Welche Mechanismen nutzen wir, um das zu ertragen?

CR: Während der Arbeit entwickelte sich bei uns die Fantasie, den Umgang mit Erinnerungen und Traumata radikaler zu denken: Wenn wir als Gesellschaft wirklich von Neuem anfangen und uns befreien wollen von jeglichen Vorannahmen über andere, und darüber, wie Dinge „zu funktionieren haben“, müssen wir uns vielleicht komplett lösen von unserer Vergangenheit. Dann müssten wir unsere Vergangenheit abschneiden; nicht nur bearbeiten oder bewältigen, sondern in letzter Konsequenz auch vergessen. Natürlich ist das auch eine gewaltvolle Vorstellung, denn ohne Vergangenheiten lösen sich Identitäten und wichtige Erkenntnisse auf. Gerade marginalisierten Gruppen von Menschen würde damit ein wichtiges Element für ihr Empowerment genommen – aber es wäre ein Szenario für eine Welt, die voller Hierarchien und Diskriminierungen ist. In dieser Fiktion eines klaren Cuts würden uns auch jegliche Privilegien genommen werden. Der Versuch, die Erinnerungen loszuwerden, zeigt sich aber als langwierig und auch schmerzhaft.

CH: Ja, denn in diesen Erinnerungen geht es um die Grundlagen unseres jetzigen Lebens – in Deutschland, einem Wohlstandsland mitten in Europa – und wie wir die Welt wahrnehmen. Das geschieht immer wieder durch Bilder, die Referenzen sind zu kollektiven Erinnerungen der jüngsten Zeit und des letzten Jahrhunderts. Man kann sagen, es sind zu Bildern kondensierte Traumata. In „where we are (at)“ wird die Frage aufgeworfen, wie wir mit diesen kollektiv prägenden Erinnerungen umgehen und was wir daraus für unsere Zukunft ableiten können.

CR: Es ist ja auch eine These des Stücks, dass wir aufgrund der zusammenbrechenden Sicherheiten unserer gewohnten Welt für die Zukunft keine Prognosen mehr stellen können. Aber trotzdem gehst du davon aus, dass wir aus unseren bisherigen Erfahrungen eine Form von Lehre und Konsequenz ziehen können?

CH: Die Prognose ist die Voraussage des „so wird es sein“. Die Konsequenz der bisherigen Erfahrung ist dagegen der Versuch miteinander zu überlegen, wie es stattdessen auch sein könnte. Wie wollen wir leben, auch wenn uns Sicherheiten abhandenkommen? Und das kann nur gemeinschaftlich befragt werden.

„Einen Garten anzubauen ist für mich ein Sinnbild für Selbstwirksamkeit.“

CR: Was uns früher selbstverständlich, unveränderbar und vielleicht auch richtig erschien, wird in Zweifel gezogen. Und was die Zukunft bringt, war ja sowieso schon immer unsicher. Dadurch wird auch klar, dass das Nachdenken über Gemeinschaft in dem Stück nicht auf bestimmten Traditionen, Herkünften oder geteilte Identitäten beruht – also das, was sich in der Moderne kristallisiert hat in monotheistischen Religionen, Nationalstaaten bis hin zum Konzept der „Kernfamilie“. Das alles ist ja damit verbunden, dass Menschen bestimmte Geschichten teilen. Wenn das erschüttert wird, muss sich das Selbstverständnis von Gemeinschaft auf etwas anderes beziehen. Im Stück wird das im Motiv des Atmens und Essens sichtbar.

CH: In einer längeren Szene am Anfang sitzen alle an einem Tisch. Es ist eine festlich gedeckte Tafel, bei der sich aber ziemlich schnell herausstellt, dass alle Lebensmittel aus Plastik sind. Es ist natürlich ein Sinnbild für den Überfluss, aber auch für eine sinnlos gewordene Tischetikette. Und dann gibt es am Ende des Stücks eine ritualisierte Form des gemeinsamen Essens, ein Sich-Einverleiben, aus dem etwas Neues entsteht. Das entstand ursprünglich aus dem Titel „Let’s build a garden“ – Lasst uns einen Garten anbauen. Das war für mich ein Sinnbild für Selbstwirksamkeit.

CR: Und diese Selbstwirksamkeit ist zugleich nicht unabhängig von der Welt, sondern beschreibt eine Symbiose.

CH: Genau. Jedenfalls ist von dieser Idee des Gartens die Erde übriggeblieben, die in Säcken am Ende auf die Bühne getragen wird. Es gibt vorher im Verlauf des Abends eine Szene, in der die Tänzerin Pin-Chen Hsu sehr offensichtlich auf der Vorderbühne eine Himbeere isst, was sie dann später über einem der Erdsäcke wiederholt. Allerdings erbricht sie die Beeren und legt die unverdauten Samen in die Erde. Daraus entstand dann die Idee, dass sie sich wiederrum von der bepflanzten, nahrhaften, lebensbringenden Erde wieder ein Häufchen einverleibt. Das Bild des gemeinsamen Essens transformiert sich also: vom absurden Überfluss hin zu einem einfachen Sack Erde. Und das ist ja auch das, womit sich unsere Körperreste nach unserem Ableben wieder vermischen. Asche zu Asche.

CR: Dieses Motiv hat auch eine Verbindung zu den Tanzsequenzen, die ihr im Probenprozess den „Urschlamm“ und die „Erdwürmer“ genannt habt. Es ist ja ganz oft so, dass man für die verschiedenen Teile einer Choreografie Schlagworte erfindet, die grob beschreiben, was das für Bewegungen sind, oder wie man sie vergleichen könnte. Aber in dem Fall ist es schon möglich über die Erdwürmer Bezüge zu dem Thema Essen, Verdauung und des Verbindens mit der Welt zu ziehen. Die Erde, die am Ende als Symbol auftaucht, aus dem ein neues oder gar anderes Leben erwachsen kann, wird durch diese vielen unscheinbaren Kreaturen bewegt, umgepflügt und verdaut. Und auch der Urschlamm wäre ein Symbol für einen weniger hierarchischen Umgang mit unserer Erde. Statt auf ihr zu leben, leben wir eigentlich in ihr. Das bildet alles eine Symbiose, auch eine Form von Gemeinschaft. Aber was erwächst dann aus diesem Bild des Urschlamms?

CH: Für mich erwachsen daraus eben die Erinnerungen an unsere Gegenwart die schon Vergangenheit geworden ist. Sie brodelt noch in diesem Schlamm. Aber daraus erwachsen auch mögliche Zukünfte. . Wie aus einem Humus formieren sich die Menschen neu, und das ist für mich ein Bild für die Frage des „Was wäre, wenn?“. Zugleich beschreibt es, dass eigentlich alles vorhanden ist, um einen fruchtbaren Boden zu bilden, die Dinge müssten sich vielleicht nur anders zusammensetzen.

Foto: Maja Mirek

Foto: Maja Mirek

„Ich möchte Physical Theatre in der Öffentlichkeit sichtbarer machen.“

CR: Ich möchte nochmal über deine Arbeitsweise als Regisseur sprechen. Wie würdest du die Zusammenarbeit mit deinem Choreographen und Probenleiter Niv Melamed beschreiben?

CH: Wir waren während der gesamten Probenzeit in einem sehr engen Austausch über den Inhalt des Stücks und über mögliche Verläufe. Mit den Ideen, die ich ihm mitgegeben habe und auf der Grundlage der erarbeiteten Elemente der Tänzer:innen hat er choreografische Sequenzen entwickelt. Mit dem Blick des ausgebildeten Tänzers kann er das auf ein anderes Level heben, weil er besser einschätzen kann, was überhaupt physisch möglich ist. In vielen Momenten hat Niv allein mit den Tänzer:innen gearbeitet, wenn es zum Beispiel darum ging, die Solos, Duette und Gruppenchoreografien in ihren Abläufen zu verfeinern, technisch sauber herauszuarbeiten. Die eher performativen Szenen, wie zum Beispiel die Sequenzen am Tisch, die Szenen in denen Text gesprochen wird oder die Bilder, die im ersten Teil des Abends auftauchen sowie der Ablauf des Abends sind meine Verantwortung.

CR: Die technischen, manchmal eher pragmatischen Fragen der physischen Umsetzung, die der:die Choreograf:in betreuen kann, nehmen dann für die Regie weniger Raum ein. Sie kann sich dadurch mehr um das große Ganze kümmern. Gerade bei dem interdisziplinären Ansatz des Physical Theatre macht das Sinn. Ist das ein Modell, mit dem du auch zukünftig arbeiten möchtest?

CH: Oh ja, das möchte ich schon gerne weiterführen, weil ich das Gefühl habe, dass alle Beteiligten stark davon profitiert haben.

CR: Kommen wir in dem Zusammenhang auch nochmal auf die Genrebezeichnung von „where we are (at)“ zurück: Tanz / Physical Theatre. Das Genre Physical Theatre hat sich aus dem Tanz entwickelt, es handelt sich also um eine zeitgenössische Strömung, in der ein interdisziplinäres Formenverständnis seinen Platz findet. Wie würdest du diese Beziehung beschreiben?

CH: Natürlich ist Tanz heutzutage ein sehr offener Begriff, aber ich finde schon, dass sich das Physical Theatre da nochmal heraushebt. Ich nutze in meinen Arbeiten oft Elemente, die aus dem Theater stammen: eine gewisse Form der Erzählung, gesprochene Sprache auf der Bühne, die Entwicklung von Figuren. Abgesehen von Handlungsballetten oder manchen Formen des Tanztheaters verfolgt ein Tanzabend nicht per se eine Narration, sondern konzentriert sich eher auf Bewegungsmotive zu einem bestimmten Thema. In meinen Stücken möchte ich einer Entwicklung folgen.

CR: Durch die Spartenzugehörigkeit zum Tanz und mit dir als Leiter des Tanzensembles ist natürlich eine gewisse Einordnung vorgegeben.

CH: Und das ist auch ok, denn ich möchte auch mit Tänzer:innen zusammenarbeiten und sehe die Ansätze und Umsetzungen auch im Tanz verortet, sehr viel mehr als beispielsweise im Schauspiel.  Es ist auch Teil meiner Agenda, Physical Theatre in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen. Ich habe Physical Theatre in Essen an der Folkwang Universität der Künste studiert und daraus hat sich die kontinuierliche Arbeit mit Performer:innen und Tänzer:innen entwickelt, die die Grenze zum zeitgenössischen Tanz überschreiten. Aber ich maße es mir nicht an, meine Arbeiten als Tanzstücke zu betiteln. Genauso möchte ich mich ungern als Choreograph benennen, weil ich keine Tanzausbildung habe. Aber ich bin Regisseur. Ich führe Regie mit den Methoden des Physical Theatre. Vielleicht liegt auch ein Reiz darin, dass viele Leute zu diesem Genre noch nicht so konkrete  Erwartungen haben.

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