Von Ensemblegesang und kalt klingender Elfenmusik

Dirigent Andreas Schüller im Gespräch mit Dramaturg Christian Förnzler über die Musik von Benjamin Brittens „Ein Sommernachtstraum“, musikalische Ökonomie und elfenhafte Orchesterklangfarben.

Foto: Jan Bosch

Foto: Jan Bosch


Christian Förnzler: Benjamin Britten war nicht der erste Komponist, der sich mit Shakespeares „Sommernachtstraum“ auseinandergesetzt hat: Henry Purcell, Carl Maria von Weber, Carl Orff und natürlich auch Felix Mendelssohn Bartholdy mit seiner bekannter Schauspielmusik haben alle zum Teil auf sehr eigenwillige Weise diesen Stoff verarbeitet. Als Britten sich das vornahm, war er 46 Jahre alt und hatte bereits neun Opern komponiert, darunter „Peter Grimes“, „The Rape of Lucretia“ oder „Billy Bud“. Welchen Weg hat er beim Umgang mit dieser doch auch sehr derben Komödie gewählt?

Andreas Schüller: Britten hat sehr klare stilistischen Entscheidungen getroffen, um diesen Stoff zu bewältigen. Und erfahren wie er war, knüpft er an vielen Stellen an die Musik- und Operngeschichte an. Am auffälligsten ist das dort, wo es ihm ums Parodieren und Persiflieren zu tun war. So etwa in den Momenten, in denen die Handwerker die „höchst traurige Komödie von Pyramus und Thisby“ aufzuführen versuchen. Da benützt Britten allerhand Anspielungen an italienische Opern, bis hin zu Thisbys Theater-Tod, für den er eine Art „Lucia di Lammermoor“-Parodie komponiert. An anderen Stellen sind die Bezüge in die Musiktradition eher abstrakter Natur, etwa, wenn er für die dienenden Elfen Musik erfindet, die „im Stile Henry Purcells“ (so lautet die Spielanweisung!) zu musizieren sei. Das ist eine sehr ernst gemeinte Verneigung vor dem wichtigsten englischen Barock-Komponisten.

Am bemerkenswertesten finde ich aber, wie es ihm mit diesem Werk gelingt, in ganz toller englischer Tradition auch im 20. Jahrhundert nochmal neu und genial für Kinderchor zu schreiben. Es ist ja nicht wenig, was der Chor zu singen hat. Und wenn man für Kinderchor schreibt, steht man seit Jahrhunderten vor der Problematik, dass Kinderstimmen nur einen begrenzen Tonumfang haben, und dass es aus Kinderperspektive auch erlern- und aufführbar sein muss. Und trotzdem ist diese Musik im „Sommernachtstraum“ alles andere als simpel. Sie ist sogar ziemlich komplex – wie er das kann und einsetzt, ist einfach meisterlich.

CF: Benjamin Britten galt seinerzeit als konservativer Komponist. Dodekaphonie und Serielle Musik, die tonale Zentren ablehnen, waren 1960, dem Uraufführungsjahr vom „Sommernachtstraum“, schon lang etablierte und verbreitete Kompositionstechniken. Hat Britten die Avantgarde ignoriert?

AS: Was die Kompositionstechniken angeht, etwa seine Art, für Stimme zu schreiben, und das Vorhandensein von Dur/Moll-Zentren und Momenten, in denen man eine Tonika nicht nur vermuten, sondern auch wirklich fühlen kann, ist er konservativ. Aber er verwendet viele Klangeffekte der zeitgenössischen Musik. Allein das sehr aufwendige Schlagzeuginstrumentarium und die Mischung von Harfen, Celesta und geteilten Streicher-Klängen, die vielen dissonanten Sekundschichtungen sind typische Elemente der zeitgenössischen Musik und ganz stark ausgeprägt in seiner Komposition vertreten.

Im Übrigen ist die ganze Partitur mit einer sehr klugen Ökonomie erdacht. Es gibt thematisches Material, das bestimmten Figuren zugeordnet ist (etwa im Falle der Liebhaber, aber auch bei Oberon) und über alle Akte hinweg auftaucht und solcherart immer eine gute Orientierung fürs Publikum schafft.

An jedem der drei Aktbeginne wiederum etabliert Britten Musik, die dann während des ganzen Aktes bei Szenewechseln als Überleitungs- und Verbindungsmusik Verwendung findet. Im 1. Akt sind das leise Streicherglissandi mit schillernden, abwechselnd tiefen und hohen Dur-Akkorden. Im 2. Akt hat er sich eine Folge aus vier Klängen ausgedacht. Diese Akkorde C-Dur (immer im Schlagzeug und in den Harfen), Des-Dur (von den Streichern gespielt), D-Dur (Blechbläser), Es-Dur (Holzbläser), werden während der ganzen Einleitung zum 2. Akt sinfonisch variiert und tauchen dann auch immer zwischen den Szenen als Überleitungsmusik und am Ende des Aktes auf. Der 3. Akt beginnt mit einem eigentlich sehr schlichten aber dissonanten Kanon der Violinen, den man mit „Nebel im Wald“ oder „Sonnenaufgang“ assoziieren kann. Auch dieses neue musikalische Material verwendet Britten um es während des 3. Aktes immer wieder zu variieren.

CF: Britten zeichnet alle Figuren im „Sommernachtstraum“ ungemein (musikalisch) differenziert und nutzt dafür sämtliche Parameter: die Orchestrierung, die Intervalle, die jeweiligen Stimmfächer ...

AS: ... besonders die drei unterschiedlichen Orchesterfarben sind markant, um die jeweiligen Welten der Elfen, der Handwerker und der Liebenden voneinander zu unterscheiden. Am raffiniertesten finde ich, wie die Elfenwelt klanglich charakterisiert ist: Britten verwendet da eine ganz spezielle, eigentlich eher scharfe Klangfarbenmischung aus den Instrumenten Celesta, Cembalo, Harfen und Glockenspiel. Manchmal klingt das ganz kalt und hell. Und es bleibt irgendwie schwerelos, so als würden die Elfen eben den Boden gar nicht berühren. Den Handwerkern sind eher „stabile“, geerdete Instrumente wie die Posaune zugeordnet. Da tönt es dann hin und wieder auch wie auf einem Dorffest ...

CF: Sie sprachen davon, dass Britten natürlich auch auf die Musikgeschichte Bezug nimmt. Das sehen wir auch an den vier Liebenden Hermia, Lysander, Helena und Demetrius, die deutlich in einer Beziehung zu Operntraditionen des 19. Jahrhunderts stehen.

AS: Das stimmt. Ich möchte Britten nicht mit Opern-Komponisten wie Verdi vergleichen, aber der Gestus der Musik, die impulsiv ist und immer einen klaren affektmäßigen Charakter hat, ist natürlich schon von der historischen Oper übernommen.

Bei den Handwerkern ist es wiederum ganz anders: Deren Szenen sind fast durchweg große A-cappella-Stellen mit recht trockenen, oft kurzen Orchestereinwürfen. Hier hat er einen lockeren Parlando-Stil gewählt, um den vielen Text in kurzer Zeit bewältigen zu können. Und das führt zu einem schnellen und trockenen musikalischen Gestus, der aber den Charakteren der Rollen sehr gerecht wird.

Benjamin Britten bei den Uraufführungsproben zum „Sommernachtstraum“ in Aldeburgh, 9. Juni 1960

Benjamin Britten bei den Uraufführungsproben zum „Sommernachtstraum“ in Aldeburgh, 9. Juni 1960

CF: Das ganze Werk ist von den Singstimmen dominiert und die Aufführung nicht zuletzt eine immense Ensembleleistung der Sänger:innen. Britten selbst hat in diesem Kontext gesagt: „Ich habe meine Oper für einen Saal geschrieben, der 316 Personen fasst; es ist also ein Werk für kleine Dimensionen. Es steht nur eine kleine Besetzung zur Verfügung, was große Vorteile mit sich bringt: Man kann sehr bald detaillierter und disziplinierter arbeiten. Die Sänger brauchen nicht durchgehend mit der gleichen Kraft zu singen, und so kann man die ganze stimmliche Farbpalette auskosten.“

AS: Ein sehr schönes Zitat! Der „Sommernachtstraum“ ist einfach ein absolut stimmenlastiges Stück. Die Partitur zeichnet sich oft dadurch aus, dass wir Strecken haben, in denen immer viel Stimme zum Einsatz kommt mit lediglich „ein bisschen“ Orchester herum. Im Unterschied zu vielem anderen, was im 20. Jahrhundert geschrieben wurde, wo man oft ein großes Orchester hatte und „ein bisschen“ Stimme dazu. Denken wir an Richard Strauss‘ „Elektra“: Eine 60-zeilige Partitur mit wahnsinnig viel musikalischer Information und oft nur einer einzigen Singstimme, die einen halben Satz verteilt über viele Takte singen muss.

Beim „Sommernachtstraum“, glaube ich, knüpft Britten mit seiner Art des Ensemblesingens an die großen Shakespearevertonungen des 19. Jahrhunderts an. Und um nochmal auf Verdi zu kommen: Dessen „Falstaff“ mit seinen enorm komplexen (und schnellen!) Ensembles, der als Gipfel des Ensemble-Singens gilt, ist sicher ein Anknüpfungspunkt für Britten gewesen.

Wir haben hier schon eine spezielle Qualität, die eben auch einen Komponisten voraussetzt, der eine enorme Kenntnis von den Möglichkeiten der menschlichen Stimme hat und der auch vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Musik genau weiß, was die menschliche Stimme vermag und was eben nicht. Die Partien sind auf der einen Seite äußerst anspruchsvoll, andererseits sehr gut singbar.

Fotografie Benjamin Britten: Hulton Archive / Getty Images

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