Vier traumatisierte Figuren: Leonora und Graf Luna

Leonora: Figurine von Åsa Gjerstad

Leonora: Figurine von Åsa Gjerstad

Wer mehr über die Hintergründe der Hofdame Leonora wissen möchte, muss in die Vorlage der Oper schauen, das spanische Drama „El trovador“ von Antonio García Gutiérrez: Dort hat Leonor (Leonora) einen ehrgeizigen Bruder, der sie unbedingt mit dem Grafen verheiraten möchte, um seine eigene Position bei Hofe zu stärken. Als Leonor sich weigert, setzt ihr Bruder sie immer weiter unter Druck, und als Leonor mit Manrique (Manrico) durchbrennt, meint ihr Bruder, sie töten zu müssen, um seine Ehre wiederherzustellen.

In Verdis Oper ist von Leonoras Bruder keine Rede, doch dass sie unter Druck steht, den Grafen Luna als Ehemann akzeptieren zu müssen, spüren wir sofort. Doch sie hat sich für Manrico entschieden, den mittellosen Troubadour, der sich ihr mit zarten und bittenden Gesängen nähert – das Gegenbild zum rücksichtslosen, ungehobelten Grafen. Wenn sie von zitternden Streichern begleitet erzählt, dass sie Manrico schon aus der Zeit vor dem Krieg kennt, als sie ihm als Sieger eines Turniers den Siegerkranz aufs Haar drücken durfte, da ahnen wir, dass hier mehr Projektion als Erinnerung im Spiel ist: Manrico ist der Mann, mit dem sie sich eine andere Zukunft vorstellen kann – und nur mit ihm, denn ohne ihn möchte sie sterben, wie sie schon zu Beginn der Oper sagt und mehrfach wiederholt. Doch erst als sich für sie eine Gelegenheit ergibt, den Geliebten zu retten, setzt sie diesen Plan in die Tat um und sie tötet sich selbst. Fast schafft sie es, Manrico zu befreien, doch er weigert sich aus Eifersucht, das Gefängnis zu verlassen, bis es zu spät ist.

Graf Luna: Figurine von Åsa Gjerstad

Graf Luna: Figurine von Åsa Gjerstad

Die Figur ist fiktiv, sein politisches Umfeld nicht: Graf Luna lebt zur Zeit des Krieges um die Krone von Aragon (1412-1413) und kämpft dort auf der Seite des gewählten Königs Ferdinand I. Die Anhänger Jakobs von Urgells sind seine Gegner.

In der Oper erscheint Luna als rücksichtsloser Machtmensch, der seine Leidenschaft für Leonora mit allen Mitteln durchzusetzen versucht. Als Leonora ins Kloster eintreten will, betrachtet Luna sogar Gott lediglich als Rivalen. Manrico lernt er zunächst als Kriegsgegner kennen, denn der kämpft auf der Seite von Jakob von Urgell, doch im 1. Teil der Oper muss Luna feststellen, dass beide auch um dieselbe Frau kämpfen: Leonora. In seinem dadurch weiter gesteigerten Hass auf seinen Konkurrenten wirkt Luna als Charakter eindimensional – ein affektgesteuerter Bösewicht ohne moralische Skrupel.

Betrachtet man jedoch die Vorgeschichte genauer, wird deutlich, dass Luna eine interessante Parallelfigur zur Azucena ist. Auch er verlor als Kind alle wichtigen Bezugspersonen: Der kleine Bruder wurde entführt und gilt seitdem als ermordet, sein Vater starb kurz darauf, von einer Mutter ist nie die Rede. Und so wie Azucenas Mutter sterbend den Auftrag „Räche mich!“ an ihre Tochter weitergab, so beauftragte der alte Graf Luna seinen Sohn auf dem Sterbebett, niemals aufzugeben, den kleinen Bruder zu suchen – ein unerfüllbarer Auftrag, sprachen doch alle Indizien dafür, dass das Kind verbrannt wurde. Tatsächlich lebt der Bruder; es ist Manrico.

Wie seine Vergangenheit den heranwachsenden Luna geprägt hat, erfahren wir leider nicht. Weder der Autor der Vorlage Antonio García Gutiérrez noch Giuseppe Verdi hat sich intensiv für die Psyche Lunas interessiert. Lediglich in seiner Arie „Il balen del suo sorriso“ („Der Glanz ihres Lächelns“) erleben wir seine zarte Seite. Doch gaben ihm Verdi und sein Librettist Salvadore Cammarano das letzte Wort der Oper. Als Azucena ihm eröffnet, dass er seinen eigenen Bruder hat hinrichten lassen, ruft er entsetzt: „Und ich lebe noch!“ Und während Azucena mit dem Tod Manricos wenigstens den Racheauftrag ihrer Mutter als erfüllt betrachten kann, muss Luna feststellen, dass er gescheitert ist. Es bräuchte eine zweite Oper, um zu erfahren, wie er mit dieser Erfahrung weiterlebt.

Text: Ann-Christine Mecke

Für hilfreiche Hintergrund-Gespräche über die psychologischen Hintergründe danke ich dem Mediziner Dr. Hans-Ulrich Kötter, der im Extrachor des Stadttheaters Gießen singt.

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