Sich auf den Weg machen, ohne sich zu verirren

Ein Probentagebuch zu „Etudes“ von Max Levy
von Eszter Sonnevend
English below

Einer der häufigsten Sätze von Max, die ich während der Proben zu „Etudes” hörte, war: „Was passiert jetzt, wie gehst du weiter?“ - gefolgt von seiner Reaktion: „Aha! Das ist anders, das mag ich!“ Das ist einer der Gründe, warum ich es liebe, ihm beim Choreografieren zuzusehen – er gibt den Tänzer*innen Freiheit und versucht nicht, sie in eine vorgefasste äußere Form zu pressen.

Max Levy begann die Arbeit an „Etudes“ mit einem klaren visuellen und musikalischen Konzept, aber das Bewegungsmaterial entsteht durch Improvisationen. Die Vorgaben für diese Improvisationen lassen viel Interpretationsspielraum zu, was eine breite Palette an Möglichkeiten zur Ausführung zulässt. Es kann eine verschriftlichte Bewegungspartitur sein, die beschreibt, was die einzelnen Gliedmaßen tun sollen – aber nicht, wie und in welchem Umfang – oder ein bodenlanger Rock oder ein Stück Tanzboden, mit denen die Tänzer*innen choreografisch umgehen. Während sie mit dem Material experimentieren, besteht Max' Input oft aus assoziativen Vorschlägen, die die Tänzer*innen einladen, sich sprichwörtlich in neue Gewässer vorzuwagen.

Das Ergebnis kann nie genau so sein, wie Max es sich vielleicht vorgestellt hat, was ihn als Choreographen dazu zwingt, sich selbst immer wieder neu einzulassen, neu zu planen und zu berücksichtigen, was jeweils im Moment passiert. Diese Methode beeinflusst auch den Weg, auf dem sich das Stück entwickelt: eine gerade, schnelle Linie wandelt sich in einen  mäandernden, erkundenden Pfad, mit einem Ergebnis am Ende, das dann aber doch akribisch aus vielen kleinen Einzelteilen aufgebaut ist.

Jeff Pham und Borys Jaźnicki in den Proben mit Max Levy

Jeff Pham und Borys Jaźnicki in den Proben mit Max Levy

Ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Erkundungsprozess ist die Arbeit mit den Röcken als Teil der Kostüme in „Etudes“. Es handelt sich um lange, außen schwarze und innen blaue, bodenlange, in Falten ausgestellte Kleidungsstücke, die in ihrer Verwendung die Persönlichkeiten der Ensemblemitglieder widerspiegeln. Jede Person bringt ihre eigenen Ideen und einzigartige Vorstellungskraft im Umgang mit ihnen ein. Alle Tänzer*innen finden unterschiedliche Gründe, ihre Röcke anzuheben und mit ihnen zu interagieren. Da die Röcke den Boden berühren und die Beine kaum sichtbar sind – was daran erinnert, wie beispielsweise im viktorianischen Zeitalter sichtbare Knöchel Erstaunen hervorriefen – scheinen die Tänzer*innen immer wieder zu schweben. Dies verleiht der kontrollierten Gruppenbewegung eine fast rituelle Qualität.

Ein anderer faszinierender Moment ist, wenn die Tänzer*innen ihren Röcken Leben einzuhauchen scheinen, indem sie sie wie Puppenspieler*innen bewegen, als ob sie ein lebendiges Wesen, mit eigenem Willen, tragen würden. Die einen versuchen, sich ihm zu entziehen, die anderen scheinen sich um es zu kümmern.

Magdalena Stoyanova (HG), Pin-Chen Hsu und Rose Marie Lindstrøm

Magdalena Stoyanova (HG), Pin-Chen Hsu und Rose Marie Lindstrøm

Der Eindruck des Puppenspiels ist nicht nur auf die Interaktion mit den Röcken beschränkt. Die viereckigen Tanzbodenstücke des Bühnenbilds verwandeln sich in den Händen der Tänzer*innen in Berge, Kleider, Steilwände, leere Seiten, Kokons, Ozeane und Krabbenhäuser. Wenn die Performenden dabei unsichtbar sind, bewegen sich die Matten wie mystische, lebendige Kreaturen im Raum. Sind die Performenden im Spiel mit ihnen sichtbar, werden sie zu Tanzpartnern, Skulpturen oder Verbindungsstück zwischen den Tänzer*innen.

Ich sehe Max oft mit dem Buch „Essays in Zen Buddhism”, was mich dazu brachte, in „Etudes“ nach Zen-Einflüssen zu suchen. Max' Anleitung für die Tänzer*innen, „dem Ziel nicht zu viel Bedeutung beizumessen, sonst geht der Weg dorthin verloren“, ähnelt für mich dem Ansatz des Zen-Buddhismus. Er strebt danach, im Augenblick präsent zu sein, ihn bewusst zu erleben, anstatt sich nur auf die Zukunft zu konzentrieren.

Der Zen-Buddhismus verneint sowohl den Dualismus als auch die Einheitlichkeit und lädt stattdessen zur freien Bewegung zwischen diesen beiden Perspektiven ein, die eine dritte Möglichkeit eröffnet. Diese Haltung des „nicht eins“ und „nicht zwei“ gilt insbesondere für die Gestaltung und den Umgang mit den Tanzboden-Stücken. Die Ausgangsanordnung im Stück, die schwarz-weiß ist, visualisiert das Prinzip „nicht eins“, verkörpert aber dennoch die Dualität. Doch dann beginnen die Tänzer*innen, die Bodenstücke neu im Raum zu arrangieren und lösen dabei die strenge Ordnung auf. Wenn plötzlich auch blaue und grüne Matten sichtbar werden, stellt sich heraus, dass das, was wir für binär hielten, gar nicht binär ist, dass die Dualität gar nicht existiert. Die Nichtexistenz des Dualismus war die ganze Zeit unter der Oberfläche verborgen, und das System enthielt schon immer eine dritte Position.

Eszter Sonnevend, aufgewachsen in Ungarn, studiert Angewandte Theaterwissenschaften an der Justus Liebig Universität Giessen. Sie interessiert sich für zeitgenössischen Tanz und Objekttheater. Während der Probenprozesses fand sie am interessantesten zu beobachten, wie unterschiedlich die Herangehensweisen der Künstler*innen sind, die zusammenarbeiten.


How to not get lost on the way

A Rehearsal Diary on „Etudes” by Max Levy
by Eszter Sonnevend

During the rehearsals on „Etudes”, the most frequently heard phrase from Max is: “What comes, what do you wanna do?” – followed by his reaction, “Hahah, that’s different, I like it!” That's one of the reasons I love watching him choreograph - he gives the dancers freedom and doesn't try to mold them into a preconceived external form.

Max Levy started the work on „Etudes” with a clear visual and musical concept, but the movement material is created through improvisation. The guiding frameworks for the improvisations are broadly interpretable tasks that allow for a wide range of execution. These might include a written score that specifies what each limb should do – but not how or to what extent – or a full-length skirt or a piece of dancefloor. As the dancers experiment with the material, Max's input often consists of associative suggestions that invite the dancers to new waters.

The result can never be exactly what Max envisioned, forcing the choreographer into a constant state of re-planning, always considering what is happening in the moment. This method also shapes the curve of the progress, transforming it from a straight, fast line into a meandering, exploratory path with an endresult meticulously built from very small pieces.

A striking example of this exploratory process can be seen in the use of the skirts as part of the costume in „Etudes”. They are long, black on the outside and blue on the inside, full-length, pleated garments that reflect the personalities of the company members in their use. Each person brings their own ideas and unique imaginary characteristics to the skirts. All the dancers have different reasons for lifting the skirts and interacting with them.

Because the skirts brush the floor and the dancers' legs are rarely visible - recalling the Victorian astonishment at the sight of ankles - the dancers appear to be floating. This gives the controlled group movement an almost ritualistic quality. Another fascinating moment is when the dancers bring their skirts to life, moving them like puppeteers, as if they were wearing a living beings which have their own will. Some flee from this being, while others nurture it.

The puppeteer-like quality isn't limited to the interaction with the skirts. The pieces of dancefloor, which perform as mountains, clothes, walls, blank pages, cocoons, oceans, and crab shells – also transform through the intervention of their handlers. When the movers are invisible, the mats move in space like mystical creatures. When the movers are visible, the mats don't come to life, but offer themselves as dance partners, sculptable materials, or channels for connection between the performers.

I often see Max with the book Essays on Zen Buddhism, which led me to look for Zen influences in „Etudes”. Max's guide to the dancers "don't over-prioritize the goal, otherwise the way to get there will be lost" resembles the Zen Buddhist approach for me. He aspires to be present in the moment, to experience it with awareness, rather than focusing solely on the future.

Zen Buddhism negates both dualism and unity, offering instead a free movement between the two perspectives, opening up a third one.This stance of "not one" and "not two" approach particularly applies to the layout of the dancefloor pieces. The original arrangement, which is black and white, visualizes the "not one" principle, but still embodies duality. As the dancers begin to reorganize the pieces and the order dissolves, it becomes clear that binary thinking isn't the right approach either. When the blue and green mats are revealed, it turns out that what we thought was binary is not binary at all, the duality never even existed. The non-existence of dualism has been hidden all along beneath the surface, and the system has always contained the third position.

Eszter Sonnevend, who grew up in Hungary, studies applied theater at the Justus Liebig University in Giessen. She is interested in contemporary dance and object theater. What she found most interesting during the rehearsal process was observing the different approaches of the artists working together.

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