„Was bleibt, wenn nichts mehr kommt, von dem, was war?“

Ein Gespräch mit Stina Jähngen, Anne-Elise Minetti und Carolin Weber über die gemeinsame Arbeit an einer Figur, wie sich 60 Jahre deutsch-deutsche Geschichte auf die Bühne bringen lassen und wie Erinnerungen unser tägliches Zusammenleben prägen. Das Gespräch führte Inga Mach, die als Dramaturgiehospitantin in der Produktion „Dumme Jahre“ engagiert ist.

Ihr drei spielt im Stück „Dumme Jahre“ die Figur Regine in unterschiedlichen Lebensphasen – vom Teenager bis zur alten Frau, von DDR, Wende, Nachwende, bis in die jüngste Gegenwart. Wie war es für euch, zu dritt gemeinsam an derselben Figur zu arbeiten?

AEM: Ich bin ein bisschen später dazu gekommen, weil ich noch in einer anderen Produktion war. Deswegen konnte ich mich überraschen lassen, wie weit und in welche Richtung die Figur sich schon entwickelt hatte. Und das war schön zu beobachten, wie ihr zwei euch schon gefunden hattet, ohne dass man klar definieren musste, wie die Figur funktioniert. Sondern das wurde auch vor allem über die Gedankenvorgänge und über das gemeinsame Erinnern vermittelt. Und eigentlich lässt man sich einfach mit der Geschichte treiben und bekommt immer mehr mit, wie sich jeder individuell als Figur entwickelt und miteinander atmet.

CW: Es gab sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten mich mit euch zu verbinden, indem wir zum Beispiel die einzelnen Monologe gemeinsam rhythmisch unterteilt haben. Und dadurch sind wir wie aus einem Guss oder durch einen Gedanken – einen Atem, wie du meintest – verbunden. Und obwohl wir diese verbindenden Elemente haben, fand ich ganz bemerkenswert, dass schon der Autor beim Schreiben bestimmt hat, dass er diese Figur der Regine in drei Rollen aufteilen möchte, in drei Altersstufen, von drei Schauspielerinnen gespielt. Was für mich eigentlich eher auf eine Unterschiedlichkeit hinweist und bedeutet, dass man eben nicht eine spielt, die dann in sich geeint wäre durch den einen Körper, die eine Stimme, die eine Ausstrahlung. Trotz aller Gemeinsamkeit, haben wir auch deutlich daran gearbeitet, wie sich so ein Mensch über die Jahrzehnte entwickelt und verändert.

SJ: Ich finde es toll, mit zwei anderen Versionen der eigenen Figur auf der Bühne zu stehen und zu spüren, die empfindet gerade denselben Schmerz oder dieselbe Freude und teilt dieselben Erinnerungen.

Anne-Elise, du spielst Regine in den 80ern und 90ern, und das ist natürlich politisch und historisch gesehen eine sehr bewegte Zeit gewesen. In dieser Phase verbindet sich Regines Biografie fast beiläufig mit fundamentalen Ereignissen der deutschen Teilungsgeschichte. Wie verändern diese Ereignisse ihr persönliches Leben und wie geht sie damit um?

AEM: Ja, da ist eine ziemlich bewegte Zeit. Regine ist Facharbeiterin für chemische Produktion und wegen der wirtschaftlichen Situation wird es auf dem Arbeitsmarkt immer angespannter. Es fehlten nicht nur materielle Ressourcen, sondern immer mehr Arbeitskräfte verließen in den 80ern das Land, da war die Arbeitssituation auch schon sehr angespannt. Und Regine ist eben nicht nur Mutter, nicht nur Ehefrau, sondern geht auch sehr in der Arbeit auf, ist mit großem Eifer dabei und kommt aber auch da nicht so richtig hinterher. Der härteste Bruch kommt dann mit der Wende. Es gab unfassbar viele Arbeitslose, und der größte Teil von ihnen waren Frauen, die alle ihre Arbeit verloren haben, weil viele Fabriken zumachen mussten. Ohne diesen inneren Motor stand Regine plötzlich vor dem Nichts. Und das nimmt ihr alle Kraft. Sie hat da große Probleme, nicht den Anschluss zu verlieren und daraus folgen heftige Auseinandersetzungen in der Familie. Und trotzdem gibt sie nicht auf.

© Christian Schuller

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Carolin, du spielst Regine in der Gegenwart, das heißt in unserer Rahmenhandlung, in der Regines Mann Wolfgang an Demenz erkrankt. Für ihn löst sich die gemeinsame Vergangenheit Stück für Stück auf. Welche Rolle spielen Erinnerungen, spielt der Verlust von Erinnerungen in diesem Stück?

CW: Das ist das zentrale Thema des Stückes. Ich finde es wirklich großartig, wie Thomas Freyer das Thema Erinnerung auf verschiedenen Ebenen verhandelt und diese Schichten miteinander verwebt. Es gibt das private Erinnern und diese furchtbare Demenzerkrankung. Das vermittelt auch einen Eindruck, was die Krankheit für den gesund gebliebenen Partner bedeutet, was das für eine Belastung sein kann, wenn man alleine für die Pflege zuständig ist. Dann gibt es das gemeinschaftliche Erinnern in unserer Gesellschaft: wie war das vor der Wiedervereinigung, wie war das geteilte Deutschland? Und dann gibt es in dem Stück diese poetischen Texte über Erinnerungen und wie sie weitergegeben werden, wie sie von Wolfgangs dementem Hirn übergehen in Regines Hirn und sie auf einmal denkt, das ist doch gar nicht wirklich meine Erinnerung. Dann werden wir auch im Laufe des Stückes mal zu einem Chorkörper, der noch umfassendere Erinnerungen greifen kann, die viel weiter zurückliegen. Wahrscheinlich ist es für viele eine schreckliche Vorstellung, dass die eigenen Erinnerungen verloren gehen oder sich verändern. Dabei ändern sie sich jeden Tag. Erinnerungen sind immer eine Art flüchtige Substanz, nicht nur durch Demenz.

Stina, du spielst die jüngste Version von Regine und übernimmst zudem auch die Rolle ihrer Tochter Katja. Das heißt, du siehst die Geschichte aus der Perspektive von beiden Generationen. Wie wirkt sich die Geschichte der Eltern auf die jüngere Generation aus?

SJ: Carolin sprach gerade vom Weitergeben der Erinnerungen. Und Katja erlebt öfter mit, wie die Eltern sich streiten, zunehmend auch über ihre politischen Ansichten. Da hat sie schon im frühen Alter viel mitbekommen, was sie im späteren Leben sehr prägt, sodass sie sich vor die Entscheidung gestellt sieht: Nehme ich das an, was mir beigebracht wurde, oder nicht? In welchem Kontext wurde ich geboren, wie wurde ich sozialisiert? Später, mit eigenen Kindern, beschäftigen sie diese Fragen weiter: Was ist das Richtige für mich und für meine Kinder?

© Christian Schuller

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Dumme Jahre erzählt neben all den politischen Ereignissen auch von einem Familienleben über einen Zeitraum von fast 60 Jahren, und da geht es oft ziemlich kreuz und quer. Wie schafft man es da, den Überblick zu behalten?

CW: Die Geschichte der Wiedervereinigung ist zwar ein großer Teil des Stückes, aber es braucht überhaupt keine Vorkenntnisse oder eine besondere Verbindung zu dem Thema, weil auch so viel mehr in dem Stück steckt, was einen auf jeden Fall erreichen wird. Zum Beispiel diese Familiengeschichte, die kennt nun wirklich jede*r. Auch, wie Stina sagt, das Motiv der Kindererziehung spielt eine Rolle: Die Figur Matthias, ein Freund der Familie, verbringt sogar einige Zeit in einem Spezialkinderheim. Und letztendlich geht es auch viel um Liebe in dem Stück und um die unterschiedlichen Stadien in einer Ehe, in einer Liebesbeziehung, in der man vielleicht unterschiedliche Standpunkte hat und dann knallt‘s und trotzdem findet man wieder zueinander. Auch das ist ja universell. So lassen sich soziale und politische Umstände im ganz kleinen Kosmos Familie ablesen. Und ich glaube, dass wir es geschafft haben viele der politischen aber auch der familiären Ereignisse an dem Abend lebendig zu machen.

SJ: Eine Stärke, die der Abend auch hat, ist, dass man sich nicht nur mit den Figuren verbinden, sondern daraus auch Fragen an die eigene, an unsere Gegenwart stellen kann. Also, dass man sagt: Okay, Geschichte wiederholt sich und das ist heute immer noch relevant. Da erkenne ich etwas, das vielleicht heutzutage auch passiert. Man muss in der Inszenierung gar nicht so stark auf die Jahreszahlen schauen. Denn wenn man aus dem Theater rausgeht, findet man das auch draußen wieder.

AEM: Ja, das war auch wirklich ein spannender Vorgang während der Probenzeit, dass wir drei ja aus unterschiedlichen Zeiten zusammengewürfelt sind. Wir haben viele Filme geschaut, viel diskutiert miteinander und einfach versucht, uns anzunähern an die Frage: Welche Perspektiven gibt es in Bezug zum Stück?

Was war während dieses Vorbereitungsprozesses der interessanteste oder der überraschendste Fakt, den ihr neu gelernt habt?

SJ: Ich habe jetzt keinen konkreten Fakt, aber ich glaube, was mich noch mal beschäftigt hat, war einfach das Thema, wie weit sich Liebe und Politik miteinander vereinen lassen. Also, über welche Grenzen trete ich bei mir selbst und gehe meiner Partnerin/meinem Partner entgegen und wo sage ich: Stopp, das kann ich nicht mit meinem eigenen Weltbild vereinen. Das fand ich total interessant.

AEM: Ich habe ganz viel mit meiner Familie gesprochen. Weil ich 1988, also gerade noch so in Ost-Berlin, geboren bin, habe nicht sehr viel mitbekommen von der DDR und habe mich einfach wahnsinnig gerne jetzt darüber ausgetauscht. Und habe viel konkretere Fragen gestellt zu Themen, über die ich vorher vielleicht nie so bewusst nachgedacht habe. Das war ein schöner Vorgang, aber auch ein sehr berührender.

CW: Das ist generell eine Sache an unserem Schauspieler*innenberuf, die ich so großartig finde, dass man immer wieder in neue Themen und komplexe Fragen geworfen wird, mit denen man noch gar nicht viel zu tun hatte. Da erfährt man plötzlich von ganz neuen Geschichten. Das hat auch bei mir dazu geführt, dass ich in meinem Umkreis mal näher nachgeforscht habe, wobei dann grundsätzliche Fragen aufkamen, wie etwa: Was sind Grenzen überhaupt? Oder wer gehört zu welchem Land? Also es war sehr bereichernd, diese ganze Reise mit „Dumme Jahre“. Aber ich kann hier nicht das eine nennen, dass mich so überrascht hat. Vielleicht – was weiß ich – die besseren Staubsauger.

Vielen Dank für das Gespräch!

© Christian Schuller

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