„Dantons Tod“ in der Zeit der Revolte

Dramaturg Tim Kahn über Georg Büchners Drama mit einem Text von Donatella Di Cesare


Kurz nach dem Tod der 22-jährigen Jîna Amini, die in Gewahrsam der Polizei am 16. September 2022 starb, sind mutige Iraner:innen und Kurd:innen im ganzen Land auf die Straße gegangen, um für die Aufklärung ihres Todes zu demonstrieren. Alleine in der Hauptstadt Teheran kamen tausende Menschen zusammen, um den Tod Jîna Aminis anzuprangern. Wegen ihrer vorgeblich „unislamischen“ Kleidung war diese von der iranischen Sittenpolizei festgenommen worden. Die Demonstrant:innen warfen den polizeilichen Behörden vor, für den Tod Jîna Aminis verantwortlich zu sein und sie damit zu einem weiteren Opfer der islamisch-fundamentalistischen Regierung gemacht zu haben. Die Solidarität mit Amini war und ist groß, die Massivität der wütenden Proteste enorm. In den sozialen Medien wurden Videos geteilt, in denen sich Frauen aus Protest die Haare abschnitten, ihr Kopftuch abzogen oder verbrannten. Jîna Amini wurde so zum jüngsten Symbolbild für den Kampf gegen eine frauenfeindliche Politik und antikurdischen Rassismus.

Dieser Fall steht als Beispiel neben einer ganzen Reihe von Protesten, die sich in den letzten Jahren wieder verstärkt bildeten und die Straßen und Plätze eroberten. Menschen gingen an die Öffentlichkeit um ihre Ideale und Rechte gegen jene Kräfte zu verteidigen, die mit paternalistischer und despotischer Gewalt ihre Souveränität legitimieren. Im Antlitz dieses weltweit wachsenden Aufruhrs, so würden Revolutions-Romantiker:innen vielleicht behaupten, scheint es, als sei die alles verändernde Revolution, der „Umsturz“ der ans Licht führt und alles zum Guten wendet, in greifbare Nähe gerückt. Doch die historische Erfahrung lehrt uns etwas Anderes.

Revolutionen, die unser Verständnis von politischem Aufbegehren bis heute prägen, ist gemeinsam, dass sie allesamt scheiterten. Keine Revolution, weder die Französische oder die Amerikanische, noch die Russische oder Friedliche Revolution konnten ihre Ziele über die erste Entladung hinaus institutionell und durch staatliche Reorganisation festigen. Im Gegenteil: Fast immer verschlimmerten sich die Missstände vieler Menschen auf noch drastischere Weise. Und doch beziehen wir uns bei allen progressiven Ideen und revolutionären Anstrengungen immer wieder auf die historische Erfahrung derselben. 1835 schreibt Georg Büchner mit „Dantons Tod“ nicht nur ein Drama, dem er diese Historie zur Grundlage macht, sondern mit dem er ebenso vermag die damaligen gesellschaftlichen Missstände mit den Mitteln der Literatur anzuprangern. Er etablierte die ersten Ideen der Umwälzung und bediente sich dabei nicht nur historischer Quellen, sondern vor allem der Umgangssprachlichkeit und des Straßenjargons. Damit rückte er die revolutionäre Kraft des geschriebenen Wortes in die Nähe derjenigen, von denen die Revolution – folgt man Hannah Arendt – eigentlich ausgehen muss: der des Volkes.

In „Dantons Tod“ sind wir mit den Abgründen des menschlichen und politischen Scheiterns konfrontiert, das alles ins Chaos stürzt. Heute müssen wir uns nicht nur die Frage stellen, wie mit diesem Scheitern umzugehen ist, sondern ob die Revolution gegenüber einem System gelingen kann, das seine Menschen mit Privilegien und Bequemlichkeiten derart verführt hat – zu blind, um ihren Feind zu lokalisieren. Zu überlegen wäre demnach ob es an der Zeit ist, sich von den Mechanismen der Revolution abzuwenden, da deren Wirkung eher regressiv zu sein scheint – trotz aller positiver Reputation, in der sie sich stets kämpferisch zeigt. Die Philosophin Donatella Di Cesare denkt Revolution von einer archaischeren Perspektive her: Sie führt den Begriff der Revolte zurück ins Feld und versucht diesen angesichts der steigenden Zahl weltweiter Proteste zu repolitisieren und positiv zu konnotieren.

In Büchners Drama „Dantons Tod“ begegnen wir Menschen, die sich gegenseitig die Masken ihrer Politik gewordenen Revolution vom Gesicht reißen möchten, um die menschlichen Aspekte dahinter hervortreten zu lassen. Währenddessen sieht Donatella Di Cesare gerade in der Maskierung das Potenzial, sich vom gesichtslosen Staat, der alle Masken verurteilt, die nicht die seine sind, so zu unterscheiden, dass die damit verbundene Revolte zur Loslösung und Befreiung von der politischen Architektur und Knechtschaft führt.

DAS RECHT ZU ATMEN
Aus: „Die Zeit der Revolte“ von Donatella Di Cesare

Die Revolte bricht sich Bahn, überall auf der Welt. Sie entzündet sich, erlischt wieder; breitet sich von neuem und weiter aus. Sie überschreitet Grenzen, ergreift ganze Nationen, erschüttert Kontinente. Die Proteste weiten sich aus, die Akte des Ungehorsams vervielfachen sich, die Auseinandersetzungen werden schärfer. Es ist die Zeit der Revolte. Obgleich die Feuer noch schwach scheinen und die Ereignisse flüchtig, kann die Revolte nicht mehr bloß als eine kurzlebige Konjunktur angesehen werden. In ihrem verzahnten Wechselspiel ist sie vielmehr als ein globales Phänomen zu betrachten, das von langer Dauer zu sein verspricht.

Nicht einmal die Pandemie konnte sie aufhalten. Während etliche Beobachter bereits das Verschwinden der pólis konstatierten und dem verlorenen öffentlichen Raum nachtrauerten, betrat die Revolte erneut die Bühne – unbändig und überwältigend – von Buenos Aires bis Hongkong, von Rio de Janeiro bis Beirut, von London bis Bangkok. Die Lunte eines explosionshaften Ausbruchs wurde sodann in Minneapolis entzündet. I can’t breathe, die letzten Worte George Floyds, die hervorgepresst wurden, als sein Peiniger nicht davon abließ, ihm die Luft abzuschnüren, haben eine emblematische Bedeutung angenommen – und zwar aufgrund einer nicht zufälligen Fügung, auf die der heimliche Synchronismus der Geschichte verweist. Dieser schreckliche Erstickungstod war jedoch kein Effekt des neuen Biovirus, der den Atem nimmt, sondern das Ergebnis eines mit Polizeitechniken verübten rassistischen Gewaltakts. Auf einmal ist der Atem in seiner ganzen existenziellen wie politischen Bedeutung hervorgetreten. I can’t breathe konnte so zu einer Losung werden, die das Recht zu atmen einfordert, das heißt: das politische Recht zu existieren.

Die Pandemie hat einen schon zuvor im Gang befindlichen Prozess weiter zugespitzt und einen bereits latenten Zwiespalt zwischen der Disziplin der Körper, der Militarisierung des öffentlichen Raums und den Kämpfen noch verschärft, die den Dissens öffentlich machen, jene Aufspaltung widerrufen und die Architektur der Ordnung unterbrechen. Die Präventivpolizei der Beziehungen, jene reglementierte Abschirmung, die mit der Abschaffung jeglichen Kontakts mit dem Anderen – dem potenziellen Feind und der Quelle der Ansteckung – ihren Höhepunkt erreicht, ist immer schon Norm und Siegel der immunitären Demokratie gewesen, mit der die Gefahr der lebendigen und unkontrollierbaren Masse, das Wagnis einer offenen Gemeinschaft, das Gespenst der Revolte gebannt werden soll.

Die Revolte läuft darauf hinaus, den Staat infrage zu stellen. Sei dieser nun demokratisch oder despotisch, laizistisch oder religiös verfasst – die Revolte zieht seine gründende Gewalt ans Licht, enthebt ihn seiner Souveränität. Ein Charakteristikum der gegenwärtigen Revolten, […] ist die Trennung von Macht und Volk, die inzwischen als endgültiger Bruch erscheint – trotz der Anstrengungen des Staates, sich selbst Legitimität zuzusprechen, stete Alarmbereitschaft zu verbreiten und allgemeine Sicherheit vorzugaukeln. Die nationalistischen und autoritären Reaktionen, die aus einer blutleeren Souveränität erwachsen, berühren diesen Prozess nicht wirklich.

Auf den Straßen und Plätzen stellt jener abstrakt-administrative Betrieb der politischen Governance sein polizeiliches Gesicht zur Schau, um damit der Masse entgegenzutreten, die zu regieren ihm nicht mehr gelingt. Die Unregierbaren betreten die Bühne, um anzuprangern, dass die Institutionen der Politik sie nicht mehr repräsentieren. Doch über diese Repräsentationskrise hinaus, die sich der Populismus zunutze zu machen sucht, steht die Neubestimmung des politischen Raumes selbst auf der Agenda. Diese Auseinandersetzung durchzieht und erschüttert in ihren heterogenen Formen und Modalitäten die globale politische Landschaft. Deshalb ist die Revolte zutiefst politisch.

In Bezug auf die Macht gilt die Revolte als nomadisch. Mit ihrer elektrischen Aufladung, ihrer glühenden Flamme, ihrem zerstörerischen Potenzial, ihrer umherirrenden Kraft kann sie wirbelhaft durch die Stadt fegen und ihr vielleicht schließlich sogar entkommen. Aber sie bleibt eine Nomadin, kampiert in Zelten am Stadtrand, unter Migrant:innen, Staatenlosen, Geächteten, Obdachlosen und Vagabund:innen. Sie ist nicht sesshaft wie die Revolution, die stattdessen versucht, die Kommandozentralen zu erobern, sich darin niederzulassen und einzurichten. Kurz: Während die Revolte lediglich die Macht destituiert, strebt die Revolution danach, sich ihrerseits zu institutionalisieren. Nicht mögliches Gelingen und Erfolg machten den Unterschied aus. Reichweite und Sieg änderten nichts an der Bedeutung der Revolte, die weder eine kleine noch eine unfertige oder gescheiterte Revolution ist. Ohne Führung im Sinne einer Vorhut, aber auch einer Befehlsgewalt, weiß die Revolte von Anfang an – aber gibt es überhaupt einen Anfang? – nicht, wie sie sich selbst regieren soll. Im Gegenteil, sie ist ein Bruch, eine Unterbrechung, bezeichnet den Moment, in dem der Zug entgleist. Die Revolte ist weder fortschrittlich noch notwendigerweise reaktionär. Wenn sie sich gesenkten Blickes in Bewegung setzt, kann sie sogar die unvorhersehbare Richtung der soeben noch verworfenen Vergangenheit einschlagen. Ganz zu schweigen davon, dass sie, wie einige sarkastische Kommentatoren andeuten, für die amtierende Regierung sogar begrüßenswert sei, die, ohne davon wirklich erschüttert zu werden, die Gelegenheit nutzen könne, das eigene Gerüst abzusichern, die Armee auf die Probe zu stellen und die bereits geölte Polizeimaschine weiter zu schmieren.

Ohne eigentlichen Anfang sei die Revolte zugleich zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Sie verschwindet ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war, ohne eine Spur zu hinterlassen, außer vielleicht jene einer dramatischen Niederlage. Auf dem Grund der Menschheitsgeschichte bleiben daher unzählige Revolten zurück, die zum Schweigen und Vergessen verurteilt sind.


Donatella Di Cesare (*1956), ist Philosophin, Essayistin und lehrt und forscht als Professorin für theoretische Philosophie an der Universität La Sapienza in Rom. Ihr Buch „Il tempo della rivolta“ erschien 2021 erstmals auf Deutsch unter dem Titel „Die Zeit der Revolte“ im Merve Verlag. Besonderer Dank gilt dem Verlag, mit dessen freundlicher Genehmigung hier Passagen veröffentlicht werden. Der Auszug wurden in sich gekürzt.

Donatella Di Cesare: „Die Zeit der Revolte“, übersetzt von Daniel Creutz, Merve Verlag, Leipzig, 2021.

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