Stadt ohne Meer auf hoher See
Wenn sich an der Anzeigetafel des Gießener Hauptbahnhofs der IC nach „Ostseebad Binz“ oder „Westerland (Sylt)“ ankündigt, versprühen diese Worte bei vielen Wehmut. Immerhin zwei Direktverbindung an die See bringt die Menschen der „Stadt ohne Meer“ an ihren Sehnsuchtsort. Das Meer fasziniert, irritiert, beängstigt, stimmt nachdenklich, ist geheimnisvoll, macht seekrank, schenkt Freude. An was denken Sie, wenn Sie sich das Meer ins Gedächtnis rufen? Und vor allem: Was hören Sie?
Beim Versuch, eine Kulturgeschichte des Meeres zu skizzieren, kann man wahrscheinlich nur scheitern, ist das Meer doch über die Jahrhunderte hinweg der Ort, der die Menschen und Kulturen miteinander verbindet oder einander entfremdet. Die Perspektiven der Menschen auf das Meer sind dabei so unterschiedlich wie die Menschen selbst. In der jüdischen und christlichen Schöpfungsgeschichte war es das Meer, das als erstes in der Welt war und das von Gott vom Himmel und schließlich auch von der Landmasse getrennt wurde. Jene Landmassen wurden von berühmten europäischen Seefahrern über das Meer erreicht und „entdeckt“: Ferdinand Magellan, der Weltumsegler, Christoph Kolumbus, der Entdecker Amerikas, Amerigo Vespucci, nach dem der amerikanische Kontinent benannt wurde, Roald Amundsen, der die Arktis und Antarktis erforschte. Immer schon waren Meere politische Räume von Macht, Deutungshoheit und Kultur. Häufig verbunden mit gewaltvoller Kolonisation indigener Völker auf dem Land. Und nach wie vor ist das Meer Ort politischer Polarisierung: geflüchtete Menschen, die häufig den todbringenden Weg übers Meer nehmen, Machtansprüche Chinas über das Südchinesische Meer, die Umweltbelastung durch Verschmutzung und Erhitzung. Das alles schwingt jenseits von persönlichen Bezügen mit, denken wir an das Meer.
Dabei immer im Hintergrund: Das unendliche Rauschen des Wassers in all seinen Dynamiken. Gerade Komponistinnen und Komponisten wurden über die Jahrhunderte hinweg immer wieder zu Werken angeregt, die sich dem geheimnisvollen Wesen des Meeres in all seinen klangmalerischen Farben angenommen haben. Das 1. Sinfoniekonzert widmet sich mit Werken von Telemann, Mozart, Mendelssohn und Debussy vier solcher Kompositionen, ergänzt von Outi Tarkiainens „Midnight Sun Variations“. Sie beschreibt ein Naturphänomen, das sich sowohl auf dem Land als auch über dem Wasser beobachten lässt: Das Licht der arktischen Sommernacht.
