Wie halten Sie es mit der Demokratie, Herr Generalmusikdirektor?
Im Gespräch mit Andreas Schüller, dem neuen Gerneralmusikdirektor am Stadttheater Gießen. Das Interview führte Ann-Christine Mecke, künstlerische Leiterin des Musiktheaters.
Wichtige erste Erfahrungen hast du in Jugendorchestern und in der freien Musiktheaterszene Berlins gemacht – erst viel später kamen so renommierte Stationen wie die Salzburger Festspiele, die Wiener Volksoper oder die Staatsoperette Dresden. Wie hat dich dieser Berufseinstieg geprägt?
Andreas Schüller: Der Kontakt mit Jugend- oder auch Laienorchestern war ganz entscheidend dafür, dass ich diesen Beruf überhaupt gewählt habe. Es war ein schöner biographischer Zufall, dass ich mit 13 Jahren in einem kleinen, sehr schlechten Musikschulorchester als Pianist aushelfen durfte. In diesem Moment habe ich sofort gespürt, dass ich so etwas mein Leben lang machen möchte. Alles andere – dass ich ein zweites Instrument gelernt habe, dass ich mich darum bemüht habe, in bessere Orchester zu kommen und so weiter – war nur eine Folge dieser zufälligen glücklichen Erfahrung. So kam ich dann auch noch vor dem Abitur in die freie Musiktheater-Szene Berlins und konnte lernen, wie man Sänger am Klavier einstudiert, wie man eine Produktion plant, szenisch probt und dann Orchesterproben leitet, die möglichst auf dasselbe Ergebnis hinauslaufen wie die szenischen Proben. Ich glaube, dass ich mein Studium ohne diese praktischen Erfahrungen gar nicht geschafft hätte. Meine Studienkollegen waren älter, gebildeter, hatten ein besseres Gehör und waren virtuoser, aber ich hatte praktische Erfahrung. Ich hatte erlebt, wie Orchesterproben laufen, wenn sie gut geleitet werden, und wie es nicht funktioniert, wenn sie schlecht geleitet werden.
Die Ansprüche an Dirigent:innen haben sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Warum werden Jugend- und Studierendenorchester mit diesem Wandel in Verbindung gebracht?
Heute sind die meisten Berufsmusikerinnen und -musiker mit Erfahrungen in solchen Orchestern gesegnet. Die sind oft sehr basisdemokratisch organisiert: Auch wenn man im Tutti spielt, kann man sich in Programmgestaltung und Organisation einbringen. Das hat erfreulicherweise zu einer Kultur geführt, in der Orchestermusikerinnen und -musiker heute nicht mehr nur dasitzen und spielen, sondern auch eine Meinung zur Arbeitsweise und zu den Inhalten haben. Dass man im Theater auch eine hierarchische Struktur braucht, hat vor allem mit der kostbaren Ressource Zeit zu tun: Wenn 40 Leute gleichzeitig sagen, was man machen soll, käme man nicht weiter. Jemand muss entscheiden, was man probt und worauf man in der Probe das Augenmerk legt. Dafür sind Strukturen nötig, aber die Mentalität dahinter hat sich geändert.
Ich als Dirigent kenne durch meine Erfahrung in Jugendorchestern auch die anderen Seiten des Betriebes: Ich habe nicht nur gespielt, sondern auch organisiert und wusste daher früh, dass ein Konzert nicht nur aus Proben und Aufführung besteht, sondern dass man Noten bestellen muss, ein Programmheft schreiben, Werbung machen und so weiter. Als Dirigent eines Jugendorchesters ist man immer auch als Manager gefordert und muss sich um das Administrative kümmern. Auch das führt zu einer anderen Verhaltenskultur.
An der Weltspitze werden immer noch Künstler:innenpersönlichkeiten zum Star erklärt, die gerade nicht diesem demokratischen Ideal des Miteinanders entsprechen. Das betrifft nicht nur Dirigent:innen, sondern auch Sänger:innen oder Regisseur:innen. Der dickköpfige, egomane Quergeist wird mit dem Etikett „Genie“ versehen und plötzlich ist sein Verhalten akzeptabel. Aber das ist ein Marketingphänomen und hat mit dem Arbeitsalltag an einem Stadttheater nichts zu tun.

Der Titel „Generalmusikdirektor“ scheint diesem demokratischen Verständnis entgegen zu stehen. Was bedeutet er für dich?
Das ist wohl einer der historischen Titel, die in Deutschland übrig geblieben sind. Ich habe lange in Österreich gelebt und bin daher auch an Titel wie Geheimratswitwe oder Kommerzialrat gewöhnt. In dem „Generalmusikdirektor“ steckt noch der Gedanke, dass dieser für das gesamte Musikleben einer Stadt zuständig ist, also von der Feuerwehrkapelle über den Laienchor bis zum Staatstheater. Früher war das Laienmusizieren ausgeprägter als heute, und diese Vereinigungen waren sehr wichtig für das Musikleben einer Stadt. Man denke an die Sing-Akademie zu Berlin, oder auch an den Gießener Konzertverein, ohne den es das Philharmonische Orchester Gießen heute nicht gäbe. Ich mag die Arbeit mit engagierten Nicht-Berufsmusikern sehr gerne, und daher hat auch der Titel „Generalmusikdirektor“ für mich einen gewissen Charme.
Was wünschst du dir für ein Publikum und was möchtest du ihnen geben?
Wenn die Pandemie die Kultur in Zukunft tatsächlich weniger beeinträchtigen wird, wie wir es erhoffen, dann ist es mein erstes Ziel, diejenigen wieder zum Live-Erlebnis zu ermutigen, die weggeblieben sind.
Zweitens möchte ich Kindern und Jugendlichen einen „Erstkontakt“ mit klassischer Musik ermöglichen. Dafür machen wir Kinder- und Jugendprojekte auf unterschiedlichen Ebenen. Dass Menschen mit einem nicht-elektronischen Instrument Musik machen können, ist ja für heutige Kinder ein regelrecht historischer Vorgang!
Drittens wünsche ich mir insbesondere in den neuen Preview-Konzerten ein Publikum, das sich vielleicht bisher nicht für klassische Musik interessiert hat, aber darauf neugierig gemacht werden kann. Es wäre mir eine große Freude, wenn viele Studierende und andere junge Menschen im Publikum wären. Wir werden Musik erläutern, vielleicht mehrmals spielen, es wird Interviews und auch interaktive Bestandteile geben. Natürlich sind die Previews aber auch für Konzertabonnenten interessant, die sich die Preview als „sehr ausführliche Einführung“ gönnen.
Du hast das Philharmonische Orchester Gießen vor über einem Jahr im Bewerbungsprozess kennengelernt und anschließend in verschiedenen Vorstellungen und Konzerten, bei denen du Zuhörer warst. Wie war dein Eindruck: Was zeichnet das Orchester aus?
Die sind unglaublich nett! Und sehr spielfreudig. Es herrscht auf der einen Seite eine gesunde familiäre Atmosphäre, auf der anderen ein sehr professionelles „Musikantentum“, das ich als das Gegenteil zum Musik-Beamtentum sehr liebe. Als Zuhörer habe ich in den vergangenen Monaten Momente erlebt, in denen das Orchester mit einer Euphorie bei der Sache war, wie man sie bei Berufsorchestern nur ganz selten erlebt, namentlich in der „Tristan“-Aufführung.
Wo soll es mit dem Orchester in den nächsten Jahren hingehen?
Die Frage ist im Moment noch sehr schwer zu beantworten, dafür müssen wir erst mehr gemeinsam arbeiten. Das Konzertprogramm des ersten Jahres ist deshalb auch ein Angebot, sich in allen möglichen Stilistiken und Epochen zu begegnen, um herauszufinden, wo es Überschneidungspunkte gibt oder ein Terrain, das besonderes Potential hat.
Gibt es Komponist:innen, Epochen oder Gattungen, die dir besonders am Herzen liegen?
Britten und Mozart sind Komponisten, die mir persönlich viel sagen und viel bedeuten. Beide sind in dieser Spielzeit vor allem im Musiktheater präsent. Die Sinfonischen Dichtungen von Richard Strauss sind ebenfalls Herzensmusik von mir, daher stand schon sehr früh fest, dass wir im 1. Sinfoniekonzert „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ spielen werden. Als ich diese Musik als Jugendlicher entdeckt habe, war ich total begeistert. Ich wollte damals auch Orchestermusiker werden, und die überwältigende Virtuosität und die großen Besetzungen haben mich fasziniert. Später dann habe ich einige dieser Werke selbst gespielt. Und auch bei den Studierendenorchestern, die ich geleitet habe, war dies zentrales Repertoire, weil es Musik ist, die junge Leute gerne spielen.
Als Zuhörer wurde ich in den letzten Jahren immer wieder positiv überrascht von unbekannterer Musik aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Zeitgenoss:innen von Haydn, Mozart und Beethoven wurden früher kaum gespielt, aber das hat sich zum Glück geändert. Auch wir werden in den nächsten Jahren daraus einen kleinen Schwerpunkt machen.